3

[130] Der Selbstbiograph hat gegen eine harte Versuchung zu kämpfen: er soll seine Leser mit Dingen verschonen, die sie nicht interessieren und welche doch ihm selbst teuer und unvergeßlich sind. Schmerzliche Kämpfe, traurige Erlebnisse zu verschweigen, das fällt weniger schwer; es ist, ich möchte sagen, ein Gebot der Höflichkeit, eine natürliche Rücksicht. Hingegen so viel Liebes, Heiteres, Gutes, das wir erlebt, das Beste vollends, was das Leben uns bietet – Männerfreundschaft! Ich hatte das Glück, in Wien vortreffliche Freunde zu besitzen. Wie viele von ihnen auch[130] das Interesse des Lesers erwecken mögen, steht freilich dahin. Von Robert Zimmermann und Eduard Schön habe ich schon gesprochen; ihre Freundschaft verblieb mir ungeschmälert; nur der tägliche Verkehr, die gegenseitige Unentbehrlichkeit und Gemeinschaft nahm ein Ende mit ihrer Verheiratung. Das ist immer so, wenn auch die jungen Ehemänner sich und ihre im Zölibat zurückbleibenden Freunde gern darüber täuschen möchten. »Es wird ja gerade so sein, ja noch schöner, wenn ich ein Heim habe und euch bei mir sehen kann statt im Gasthaus.« Welche Illusion! Der verheiratete Freund gehört den alten Kameraden, nach denen er sich wohl manchmal sehnen mag, nur noch zum kleinsten Teil, so nebenbei, ausnahmsweise; er gehört seiner Frau und seiner Familie. Darum hat das dauerhafteste Band und der stetigste Verkehr mich mit zwei später gewonnenen Freunden bis an ihr Lebensende verknüpft – weil sie unverheiratet geblieben sind: Vincenz von Ehrhart und Josef von Walther.

Letzterer, auch ein Tiroler, war Ministerialrat im Justizministerium und intimer Freund der Minister Unger und Glaser. An mich knüpfte ihn persönliche Sympathie und seine Musikliebe. Jahrelang hat er fast regelmäßig mich in die Konzerte begleitet, wenn sie ihn interessierten und – mir zulieb – auch wenn sie ihn nicht interessierten. Die Künstler waren schließlich so daran gewöhnt, ihn neben mir zu sehen, lebhaft gestikulierend, beifällig nickend oder kopfschüttelnd, daß sie ihn auch für einen Musikreferenten, mindestens für meinen Stellvertreter hielten. Mehr als eine Wiener Pianistin hat mich gebeten: »Wenn Sie wirklich nicht mein Konzert besuchen können, schicken Sie wenigstens Herrn von Walther hin!« Dazu war er freilich nicht zu haben. Aber musikalische Proben hatte er doch schon abgelegt. Er war in jüngeren Jahren Gerichtsadjunkt in Ragusa gewesen; wenn man dort den Genuß einer italienischen Opernstagione sich verschaffen wollte, mußten die Dilettanten der Stadt im Orchester aushelfen. Walther hat dort zu allen italienischen Opern im Orchester die zweite Violine gespielt, regelmäßig, unfehlbar wie ein bezahlter Geiger. Das Ableiern derselben zwei bis drei Opern mit ihrer armseligen Orchesterbegleitung wurde ihm so langweilig, daß er oft mitten im Geigen einschlief und erst durch ein unvermutetes Fortissimo mit Paukenschlag aufgeweckt wurde.

Eines Abends feierten wir mein Avancement zum Ministerialkonzipisten in heiterem Freundeskreise. Da wird durch das Anklingen[131] der Gläser ein tiefer Seufzer Walthers bemerkbar. »Was ist Dir?« – »Oh, ein verdrießliches Datum! Heute ist mein vierzigster Geburtstag!« Ich hatte die Empfindung, als bräche ein Jubelruf aus meinem Innern hervor, eine wahre Triumphfanfare, daß ich noch nicht so alt sei! Vierzig Jahre! Das kam mir wie ein Unglück vor und ich gottlob noch weit davon. Ich bekam nur zu bald Anlaß, mich an jenen Abend zu erinnern, und kein Jahr vergeht, ohne daß ich jetzt noch daran denken muß. Kaum hatte ich mich ein paar mal im Bette umgedreht – so kam es mir vor –, da war ich auch schon vierzig Jahre alt. Der verschiedene Maßstab, den wir bei fortschreitenden Jahren an das Alter anderer anlegen, ist geradezu ein psychologisches Kuriosum. Mit fünfzig Jahren hält man schon einen Vierziger für einen passabel jungen Mann und einen Zwanzigjährigen für eine Art Säugling. –

Nie habe ich einen diskreteren, mitfühlenderen Freund gekannt als diesen Walther. Im anstrengendsten Bürodienst aufgerieben, ging er endlich in Pension und verlebte seine letzten Jahre in seiner Heimatstadt Bozen, bei seinen drei unverheirateten Schwestern, braven, alten Damen, die sich bekreuzten, als Walther »das Leben Jesu« von Renau ins Haus brachte. In ihrem Hause besuchte ich ihn noch einigemale, zuletzt bei der Denkmalsfeier für Walther von der Vogelweide. Herzleidend und abgezehrt, machte er mir damals einen sorgenvoll schmerzlichen Eindruck. »Walther von der Trauerweide!« Ich sollte meinen treuen Eckart nicht wiedersehen; er starb im Jahre 1890. Ein anderer guter Kamerad war der Sektionsrat im Justizministerium, Dr. Franz Wagner, ein zarter, kleiner Mann mit dichtem, blondem Kraushaar, lichtem Teint und feinstem Profil, – eine wahre Porzellanfigur, aber kräftig an Geist und Gesinnung. Dann Victor von Pozzi, ein Mailänder von Geburt, mit den feurigsten braunen Augen, beweglichstem Geist und dem ganzen Zauber italienischen Temperaments. Endlich Dr. Heinrich Vitorelli (jetzt Gewerbe-Inspektor in Linz), ein stattlicher Mann, lebensfroh, voll Humor und bis ins Alter von ungeschwächter Empfänglichkeit für alles Bedeutende und Schöne.

Diese kleine Gesellschaft pflegte sich nach den Bürostunden in demselben Gasthaus unweit des Ministeriums zum Mittagessen zusammenzufinden. Abends erweiterte sich unser Kreis bedeutend in dem Speisesaal des Hotels zur »Ungarischen Krone«. Nicht nur fast alle Tiroler von Bedeutung, insbesondere die[132] Reichstagsabgeordneten kamen hin als Freunde Ehrharts und Walthers, auch mich suchten Musiker und Schriftsteller häufig dort auf. Sie wußten, daß ich abends in der »Ungarischen Krone« bequemer zu sprechen sei als im Unterrichtsministerium oder in meiner kleinen Wohnung. Da gab es denn heitere, anregende Abende, und oft langte der große Tisch nicht aus für den unerwarteten Zuwachs. Wir sahen ausgezeichnete Männer an unserem Tisch; ich nenne, wie sie mir in bunter Reihe einfallen: Billroth, Brahms, Nicolaus Dumba, Ambros, die Sänger Sontheim und Niemann, Dingelstedt, Gounod (nach der Premiere von »Romeo und Julie«), Mosenthal, Herbeck, Dessoff, Max Maria Weber, der Statthalter von Steiermark Baron Kübek, Graf Albrecht Wickenburg, der Landeshauptmann Graf Belrupt aus Bregenz, die Professoren Wildauer, Adam Wolf, Hlasiwetz, von Lützow, Josef Bayer, der Afrikareisende Miani u.a. Unsere schöne Tafelrunde ist längst verödet. Sie hat schon mit dem Tode Ehrharts, der nie in eine Soiree ging und darum der unwandelbare feste Mittelpunkt unserer Versammlung blieb, sich aufgelöst. Die wenigen, die dann noch übrig geblieben, sind gestorben oder haben sich zerstreut oder verheiratet.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 130-133.
Lizenz: