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[85] Außer dem unbeschreiblichen Glücksgefühl der drei Märztage bewahre ich aus dem Jahre 48 nur noch eine schöne Erinnerung. Die Studenten-Begrüßungen und Verbrüderungen standen in voller Blüte; zu Pfingsten sollte die Wiener Akademische Legion die steierischen Studenten in Graz begrüßen. Ich war über Wien hinaus nie weiter als nach Schönbrunn und Baden gekommen und nahm mit Freuden teil an der Fahrt. Natürlich wurden in jener politischen Faschingszeit Österreichs die Studenten gratis auf der Eisenbahn befördert. Der Zug kam abends in Gloggnitz an, von wo man in schwerfälligen Stellwagen den Semmering befuhr, über welchen eine Eisenbahn damals noch für eine Unmöglichkeit galt. Es war eine herrliche milde Nacht und Vollmond. Einer machte den Vorschlag, zu Fuß über den Semmering zu wandern; ein Trupp von zehn bis zwölf Studenten machte sich vergnügt auf den Weg; ich vielleicht der glücklichste darunter. Berauscht von der Poesie dieser herrlichen Mondnacht und der abenteuerlichen Wanderung, sang ich im Gehen ein Lied vor mich hin (– mich erwartete in Graz ein liebes Mädchengesicht, das mir wichtiger war als die Universität –) und sang und marschierte und knöpfte, warm geworden, die Uniform auf. Ich hatte vergessen, daß der zugeknöpfte Rock, der keine Brusttasche hatte, meine Brieftasche mit meiner ganzen Barschaft festhielt und merkte den Verlust erst, als wir in Mürzzuschlag wieder den Eisenbahnzug bestiegen. Das verwünschte Liedchen war mir teuer zu stehen gekommen, genau auf zwanzig Gulden. Zum Glück hatte ich in Graz eine befreundete Wiener Familie, die mir aushalf. Nach zwei vergnügten Tagen, in welchen ich von den Grazer Studenten[85] und ihren Festlichkeiten so gut wie nichts gesehen hatte, fuhren wir nach Wien zurück.

Im August 1848 kam Richard Wagner für einige Tage nach Wien; offenbar angelockt von der politischen Bewegung. Ich brachte einen Abend mit ihm und Professor Josef Fischhof zu, in einem bescheidenen Gasthausgärtchen an der Donau. Wagner war ganz Politik; er erwartete von dem Sieg der Revolution eine vollständige Wiedergeburt der Kunst, der Gesellschaft, der Religion, ein neues Theater, eine neue Musik! Er erkundigte sich nach den bekanntesten demokratischen Führern in Wien und ließ sich von Friedrich Uhl in eine demokratische Versammlung führen. Es stellte sich auch bald heraus, daß er den demokratischen Abgeordneten Dr. Adolf Fischhof im Sinne gehabt, als er den Klavierprofessor Fischhof besuchte, welcher nicht wenig erstaunt war, von Wagner nur politische Reden und kein Sterbenswörtchen über Musik zu hören.

In Wien wurde es allmählich immer schwüler, immer drohender das Wetterleuchten der politischen Atmosphäre. Nach dem kindischen Barrikadenbau vom 26. Mai mußte jeder Unbefangene einsehen, daß wir auf einer schiefen Ebene herabrollten. Und wir rollten immer schneller und schneller bis zu dem grausigen 6. Oktober, dem Tage der Ermordung des Kriegsministers Latour durch einen wütenden Pöbelhaufen. Auf dem Wege nach meiner Wohnung war ich unwillkürlich von einer flutenden Menschenmenge mit fortgedrängt worden auf den »Hof«. Da sah ich die Leiche Latours, bloß mit einem Leintuch bekleidet, an einem Laternenpfahl aufgehängt, vor der Hauptwache des Kriegsministeriums, wo unbegreiflicherweise der Offizier mit seiner Kompagnie untätig zusah. Der Pöbel hatte die Gasflamme über dem Haupte des Ermordeten angezündet und schrie und johlte um die Leiche herum, setzte sie auch zeitweilig durch einen Stoß in schaukelnde Bewegung. Ich drängte mich, im Innersten schauernd, aus der Menge heraus, welche den ganzen Platz anfüllte und rannte fast bewußtlos nach Hause. Da zündete ich meine Lampe an und schlug einen Band Goethe auf, um mich rein zu waschen von dem Gesehenen.

Am nächsten Morgen nahm ich in meinem gewöhnlichen Kaffeehause eine Zeitung zur Hand; darin war der Mord Latours als eine Heldentat des Volkes gepriesen. Ich konnte einen Ausruf des Abscheus nicht unterdrücken. Da fuhr mich eine Stimme vom[86] Nebentische höhnisch an: »Na, ist vielleicht schad' um ihn? Ist Ihnen vielleicht gar leid um ihn?« – »Ja,« antwortete ich kurz und ging, um jeder weiteren Replik auszuweichen. Böse Worte folgten mir. Mich entsetzte diese moralische Verwilderung des sonst so gutmütigen Wiener Volkes. Die sittliche Roheit, die sich in den Urteilen der revolutionären Blätter und des aufgehetzten Volkes aussprach, schien mir nicht viel besser, als jene gräßliche Untat selbst.

Ich suchte mich wieder in mein Studium zu vertiefen, aber es war kaum möglich, der zerstreuenden und aufregenden Gewalt des politischen Sturmwindes zu entgehen. Meine Verwandten und fast alle Bekannten hatten längst Wien verlassen. Ich pflegte abends, im September und Oktober, wo die Sehnsucht nach freundschaftlicher Aussprache, nach Kunst und Wissenschaft fast brennend geworden, in einer kleinen Weinstube in der Bäckerstraße mit den Komponisten Nottebohm und Franz Jüllig, dem Musikschriftsteller Graf Laurencin und einem in skandinavischer Literatur tätigen Beamten Karl Oberleithner zusammenzukommen. Diese Weinstube, in welcher wir uns meist ganz ungestört befanden, hatte Nottebohm entdeckt, der Kenner und Schätzer eines »schönen Weines«. Wir anderen waren Laien in diesem Fach; insbesondere Laurencin und ich bewiesen es, von Nottebohm verspottet, indem wir nur ein Gläschen süßen Tokayer oder Ruster tranken. Einige Schnitten Wurst dazu, das war das ganze Gelage.

Gustav Nottebohm, ein Westfale und Protestant, der als angehender Komponist sich noch der Unterweisung und Aufmunterung Mendelssohns zu erfreuen gehabt, war ein tüchtig geschulter Musiker. Sein feines, etwas anlehnendes Talent hat er in einigen Klavierstücken in gewinnendster Weise bewiesen, aber nicht lange kultiviert. Er wandte sich mit Vorliebe bald der theoretischen und geschichtlichen Seite seiner Kunst zu und genoß später als Lehrer der Komposition wie als musikalischer Forscher bekanntlich großes Ansehen. Seine Bücher »Beethoviana«, »Mozartiana«, seine thematischen Kataloge der Beethovenschen und Schubertschen Werke sind Muster einer gewissenhaften, reinlichen Arbeit. In unserem kleinen Kreise war er der älteste und übte eine gewisse Autorität. Er war ein spröder Hagestolz und Sonderling. Unter einer außerordentlich breiten, zurückliegenden Stirne blitzten zwei giftig blaue Äuglein hervor, welche neben der[87] roten Nase und dem rötlichen Bart noch greller schienen. Er hatte keine gesellschaftlichen Manieren, eckige Bewegungen, eine scharf abgehackte, in kurzen Sätzen springende Redeweise. Ein durchaus ehrenwerter, selbständiger, in seiner Lebensführung anspruchsloser Mann, war er doch keineswegs ein liebenswürdiger oder bequemer Gesellschafter. Aber ich hielt mich gern zu ihm, da mir der Verkehr mit einem tüchtigen, praktischen Musiker, der mehr Bildung besaß als die meisten seiner Wiener Kollegen, wertvoll war und seine warme Verehrung für Mendelssohn und Schumann sowie sein Widerwille gegen Liszts Kompositionen mich sympathisch berührten. In späteren Jahren haben Beschäftigung und Geselligkeit uns weiter voneinander entfernt, wie dies leider in großen Städten zu gehen pflegt. Nottebohm ist nach kurzer Krankheit im Jahre 1882 gestorben; ein Verlust für seine Freunde und für die Musikwissenschaft.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 85-88.
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