I.

[172] Plötzlich war ich – dort! Wie ich hingekommen, weiß ich nicht. Kaum wunderte ich mich, nichts davon gespürt zu haben, denn, sagte ich mir, wir machen täglich eine so weite Reise, ohne es zu fühlen, ja, ohne scheinbar von der Stelle zu kommen – warum sollten andere Ortsveränderungen nicht auf ähnliche Weise vor sich gehen? Die Hauptsache ist – ich war dort.

Wo? wird der wißbegierige Leser freundlich fragen – leider kann ich nur wenig darauf erwidern. Ich fühlte ebenen Boden unter mir, athmete leicht in lauer Luft und sah blauen Aether, wohin ich den Blick sandte. Alles das blieb sich gänzlich gleich bei allen Besuchen, die mir in der Folge vergönnt waren. Doch bin ich fest überzeugt, daß ich nichts erschaute, weil ich nicht durfte. Es bekümmerte mich nicht – im Gegentheil, nie bin ich heiterer gewesen. War ich doch sicher, verehrten und geliebten Menschen zu begegnen.

Während weniger Minuten war ich vorangeschritten aufs Geradewohl, als ich in einiger Entfernung Spohr's, des französischen Malers Ingres und Heinrich Heine's ansichtig wurde. Der letztere trennte sich schnell von den Gefährten, kam mir entgegen und rief aus: »Aber Hiller, wie kommen Sie hieher? Und,« fügte er hinzu, »nachdem er mich näher betrachtet, Sie gehören ja noch gar nicht an diesen Ort!« »Das ist der Humor davon,« erwiderte ich – »wahrscheinlich ist mein Kommen Ihnen klarer als mir.« »So, so,« sagte Heine gedehnt und mit langsam prüfendem Blicke. »Nun,« ergriff ich das Wort, »hoffentlich freuen Sie sich ebenso sehr, mich zu sehen, als ich mich glücklich schätze, Ihnen wieder zu begegnen.« »Das ist eine kitzlige Frage,« erwiderte er, »Sie scheinen mir seit Paris keine Fortschritte gemacht zu haben. Ja nicht zu viel wissen wollen! wissen ist ungesund. Lange ist's her, daß ich Sie zuletzt sah«, fuhr er fort. »Dazumal waren Sie leider sehr elend,« rief ich bewegt aus. »Was wissen Sie davon?« entgegnete er lachend. »Ihr nanntet das elend, weil mein Leib schwand, weil man mich brannte, folterte, mißhandelte.[173] Habe ich denn einen Augenblick den Kopf verloren? Hab' ich Euch nicht die schönsten Verse gemacht? Und obendrein, das Beste, was ich dachte, hab' ich für mich behalten, und that sehr klug daran. Seitdem ich hier bin, ist mir klar geworden, daß ich viel zu gescheit war für Euch da drunten.« »Allzugroßer Bescheidenheit scheinen Sie sich auch hier nicht zu befleißigen,« warf ich ein; »es freut mich, denn diese Tugend würde Ihnen schlecht stehen.« »Eine schöne Tugend!« rief Heine, »glauben Sie mir, wenn man da drunten dem Volke einen kleinen Finger Bescheidenheit reicht, so nimmt es nicht nur die ganze Hand, es nimmt beide Hände und Arme dazu und bindet sie Ihnen auf den Rücken, nicht einmal wehren können Sie sich.« »Aus Erfahrung wissen Sie das nicht, lieber Heine,« antwortete ich, »und profitiren kann ich auch nicht von Ihrer Weisheit, bin schon zu alt. Doch, ich darf nicht länger anstehen, Spohr und Ingres zu begrüßen – höflich ist man doch wohl auch hier zu Lande.« »Man ist, wie man ist,« sagte Heine, »Höflichkeit setzt immer noch ein Stück Komödie voraus. Kommen Sie!«

Die trefflichen Männer schienen im ersten Augenblick überrascht, mich so zu sehen; für mein Auge hatten sie sich gar nicht verändert, sie erschienen mir so frisch und kräftig wie je. Ingres gedachte der Zeiten in Rom, als er Director auf der Villa Medici gewesen. Die Liebe zur Musik hatte er sich erhalten und bezeigte sich hocherfreut, mit Männern zu verkehren, deren Schöpfungen ihn einst entzückt hatten und – noch entzückten. »Sie hatten stets ein vortreffliches Gedächtniß,« sagte ich, »und genießen das alles jetzt in der Erinnerung? Oder macht man hier Musik?« »Das wohl kaum, wenigstens nicht, wie Sie es verstehen,« erwiderte er. »Aber wir dürfen zuweilen auf die Erde, und das benutze ich hier und da«. Seltsam war es, daß mich dort oben nichts in Verwunderung setzte, ich mochte hören, was es sei. So frug ich denn Ingres ohne Weiteres, ob ihn seine musicalischen Besuche bei uns befriedigten. »Sie wissen,« antwortete er lächelnd, »ich war stets in gewisser Weise leicht zufriedengestellt, sonst hätte ich nicht so viel Violine gespielt. Vielleicht bin ich jetzt anspruchsvoller geworden. Doch gefiel[174] mir manche Aufführung – nur was man aufführt, mißfiel mir bisweilen. Ich habe nicht die Ueberzeugung gewinnen können, daß alles, was man in meiner Kunst jetzt Fortschritt nennt, ein Fortschritt sei – und in Ihrer Kunst geht es mir nicht anders. Aber ich spreche viel zu viel von Musik in Gegenwart unseres Spohr. Wenn es Sie interessirt, zu erfahren, wie man hier musicalische Kritik übt, Sie finden Meister genug, die Sie darüber aufklären können – vielleicht werden Sie aber nicht immer Freude daran haben.« »Er wird sich alle Mühe geben,« rief Heine aus. »Sie, lieber Heine,« sagte ich, »Sie treiben doch hoffentlich hier keine musicalische Kritik mehr? Hat denn Musik Sie wirklich je interessirt?« »Nur in ihren Repräsentanten,« antwortete er, indem er mich mit einem etwas ironischen Lächeln ansah. Ich machte einen tiefen Bückling. »Im Ernst,« fügte er hinzu, »mich interessirten die Musicanten – die Tonkünstler, wenn Sie das lieber hören. Ein seltsames Volk! Bedeutender, als sie es wissen, und unbedeutender, als sie es glauben. Was sie halb unbewußt hervorbringen, hat mir oft imponirt, und wenn sie bewußt gescheit sein wollen, reden und treiben sie gar viel dummes Zeug. Am meisten unterhielt mich stets die ungeheure Wichtigkeit, die sie ihrem Thun beilegen. Das ist auch gut, denn wenn sie es nicht so ernst nähmen, würde es ihnen vielleicht schal vorkommen – und dann, werden sie nicht von einer Masse verrückten Volkes in ihrer Meinung bestätigt?«

Spohr, der bisher in Ruhe aufmerksam zugehört hatte, erhob jetzt seinen schönen Kopf und sagte: »Und warum sollten wir denn unsere Kunst nicht ernst nehmen? Eine Kunst, die von den größten irdischen Dingen das voraus hat, daß sie nur beglückend wirkt und ihre Wohlthaten über Beschränkte und Gescheite, über Arme und Reiche, über Hohe und Niedrige verbreitet. Wissen Sie, lieber Heine, warum Sie sich nichts aus ihr gemacht haben? Weil sie nicht satyrisch sein kann, nicht kritisch, nicht aufklärend – weil sie Spott nicht auszusprechen vermag.« »Ihn aber hervorruft,« unterbrach Heine leise. – »Wohl, wenn sie schlecht ist,« fuhr Spohr fort, »und schlecht im sittlichen Sinne vermag sie kaum zu sein; langweilig, leer, ungeschickt, frivol – was bedeutet aber ihre Frivolität zu der der[175] Literatur? wenn sie moralisch herunterkommt, geschieht es durch die Worte der Dichter – nicht durch die Ihrigen, lieber Heine, denn was man von Ihren Gedichten componiren kann, ist wunderschön – und daß man es kann, ist nicht das, was am wenigsten für sie spricht.«

Diesmal war ich verwundert, denn nie hatte ich Spohr so lange hinter einander sprechen hören, er müßte denn etwas erzählt haben. Auch Heine schien überrascht, aber nicht unangenehm berührt. »Verehrter Meister,« sagte er, »wir sind ja über dies alles gänzlich im Klaren – ich wollte nur unserem Gaste einige Aufmerksamkeit erzeigen. Auch kann ich nicht leugnen, daß mich zuweilen Sehnsucht ergreift nach dem alten Gewande, nach den alten Gewohnheiten. Ach, es ist gar nicht so übel da drunten, wo man sich etwas lustig machen kann über so Viele und so Vieles. Fragen Sie Hiller, ob es ihm nicht wohlgefiel, mit mir auf dem Boulevard des Italiens zu schlendern und einigen Unterricht von mir zu nehmen – in der Bosheit. Auch war es nicht so schlimm gemeint – mehr Spaß am Witz als Schadenfreude über den, den er traf. Was hätte ich auch mit all dem närrischen Zeug anfangen können, das mir stets durch den Kopf ging!«

Ich lächelte über Heine's Worte – als ich ihm aber antworten wollte, fand ich mich plötzlich an meinem Schreibpult sitzend – nervös aufgeregt – wahrscheinlich durch die übermäßig schnelle Reise.

Quelle:
Hiller, Ferdinand: Erinnerungsblätter. Köln 1884, S. 172-176.
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