Besuche im Jenseits.

[171] Es war früher Morgen, halb wachend, halb träumend gedachte ich so mancher Freunde; älterer, die mir wohlwollend gesinnt, gleichaltriger, die mir treue Genossen gewesen – alle hatten die Erde verlassen, verlassen für immer. Eine unendliche Sehnsucht überkam mich – ich rief mir ihre Gestalt, ihr Wesen zurück – »könnte ich sie doch einmal wiedersehen!« – sagte ich zu mir selbst – »welch eine Freude, welch ein Glück!« ›Du sollst sie wiedersehen,‹ sprach ein holder, in den Lüften schwebender Knabe zu mir, der die Züge meines kleinen Enkels Felix trug – ›ich bin gesandt, dir's zu verkünden.‹ ›Wie, wann, wo?‹ rief ich aus. ›Hierauf kann ich nicht antworten,‹ entgegnete der Knabe, ›nur dies: zwölfmal ist dir vergönnt, dorthin zu gelangen, wo die Ersehnten sich befinden – kurze Zeit nur darfst du verweilen – benutze sie – leb' wohl!‹

Als ich die Augen aufschloß, starrte ich verwundert die nüchternen Wände meines Schlafgemaches an.


Quelle:
Hiller, Ferdinand: Erinnerungsblätter. Köln 1884, S. 171-173.
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