XII.

[221] Es fiel mir auf's Herz, als ich oben angelangt, daß dieser Besuch der letzte sein sollte, der mir verstattet. So Viele, nach welchen ich verlangte, hatte ich nicht gesehen – so Manche hätte ich gern nochmals gesprochen. Ich zog Heine heran, um mir zu helfen; er fand sich, wie immer, dazu bereit, doch gab er mir nur die Richtung an, die ich einzuhalten hatte, und sagte mir dann Adieu. »Sie werden mich jedenfalls noch hier finden bei Ihrer definitiven Rückkehr,« setzte er hinzu. »Thun Sie jedoch Ihr Bestes, um diese zu verzögern. Man mag sich überleben, aber man lebt auch dann nie lange genug!« Gegen diesen Ausspruch meine Einwendungen zu machen, wurde mir unmöglich, denn Heine entzog sich meinen Augen; ich aber beschleunigte den Schritt, um zu Mendelssohn zu gelangen, den ich noch einmal zu sprechen innigst wünschte und bei welchem auch Ferdinand David, einen meiner theuersten Freunde, zu treffen, mir Heine in Aussicht gestellt. David begrüßte mich zuerst in seiner heiter lebhaften Weise. »Eher hätte ich für möglich gehalten, ein classisches Streichquartett von Offenbach kennen zu lernen, als dich so hier zu sehen!« rief er aus. »Lieber Freund,« sagte ich, »wie sehr hat uns zur Zeit dein[221] jähes irdisches Ende in die traurigste Bestürzung versetzt!« »Ich wünsche dir, wenn auch nicht den Deinen, du mögest eben so schnell von dannen ziehen,« erwiderte er; »ich sage schnell, nicht unvorbereitet,« fügte er hinzu. »Ihm ist Zeit genug zur Vorbereitung gelassen,« sagte Mendelssohn, dessen ich jetzt ansichtig wurde; »er wird sie wohl benutzt haben und fernerhin benutzen.« »Was du darunter verstehst,« entgegnete ich, »das weiß ich nicht – bereit bin ich zu jeder Stunde, und doch bleibt mir für die folgende immer noch etwas zu thun übrig.« »Sonst würde es auch zu langweilig werden!« unterbrach mich David. »Von Langeweile«, erwiderte ich, »kann in meinen Jahren überhaupt nicht die Rede sein, die echte Langeweile entsteht nur durch Erwartung! Von jeder andern kann man sich befreien.« »Es freut mich, das von dir zu hören,« sprach Mendelssohn; »im Allgemeinen warst du einer der ungeduldigsten Menschen und es wurde dir erst wohl zu Muthe, wenn wieder etwas abgemacht, fertig, zu Ende war, wenn es, so zu sagen, ausgestrichen werden konnte. ›Nun zu etwas Neuem‹ schien deine Devise zu sein!« »Ich preise seine Weisheit!« rief David aus; »sie zeugt von Selbsterkenntniß. Man unternimmt so Weniges, was der Mühe werth wäre, fortgesetzt, fortgesponnen zu werden!« »Dann muß man es auch nicht beginnen,« entgegnete Mendelssohn, »die Wahl ist frei, wenn auch mit Qual unabänderlich verbunden; das Vollenden ist ein kategorischer Imperativ, die Vollendung wird allerdings selten erreicht.« »In deinem Munde klingt das sehr bescheiden,« entgegnete ich, »Wenige haben so viel Vollendetes zu Stande gebracht wie du.« »Dergleichen zu hören liebte ich nie,« unterbrach mich der Freund, »aber gern möchte ich dir noch ein paar gute Worte mit auf den Weg geben – doch! den alten Mendelssohn kennst du, der neue ist mir selbst noch räthselhaft. Sprich du, David, du hattest stets das richtige Wort auf der Zunge und sprachst es aus, da wir Andern uns noch besannen, – aber ohne Uebermuth!« »Thue, was dir gefällt!« rief dieser, »und«, fuhr er fort, »sage, ob wir dir noch etwas zu Gefallen thun können – deine Zeit hier verrinnt.« »Alle die Sehnsucht, die ich mit hieher gebracht, könnt Ihr nicht mehr[222] befriedigen,« antwortete ich, »doch vielleicht verhelft Ihr mir noch dazu, Einen oder den Andern zu schauen – Rietschel zum Beispiel, den ich so sehr verehre und der so gut gegen mich war!« Die Freunde verschwanden – ich habe keine Ahnung, wie lange ihre Entfernung dauerte – als sie wieder erschienen, befand sich der große Bildhauer in ihrer Mitte. »Theurer Mann,« sprach ich zu ihm, »wie dankbar gedenke ich stets Ihrer. Andern einen Dienst erweisen, ein Stück Zeit und Thätigkeit widmen, ist gut und schön; wie viel werthvoller ist es aber, ihnen sein Inneres zu offenbaren, wenn es ein so hohes ist, wie das Ihre – und Sie schenkten mir diese Gunst!« »Ich kann hierauf nur entgegnen,« sagte Rietschel, »daß es sicherlich nicht weniger wohlthuend ist, aussprechen zu dürfen, was einen bewegt, in dem Gefühle, daß den Worten herzliche Gastfreundschaft zu Theil wird. Allzu häufig begegnen sie dem Egoismus und der Kritik als Pförtnern. Als wir uns zum letzten Mal unten sahen, schüttete ich Ihnen mein Herz aus, ganz erfüllt von meinem Luther-Denkmal. Seitdem ist es vollendet worden – ohne mich!« »Aber doch gänzlich in Ihrem Sinne,« sagte ich, »und Niemand sieht sich das herrliche Werk sinnend und bewundernd an, ohne Ihrer zu gedenken in Liebe und Dankbarkeit.« »Glauben Sie das nicht, mein Freund,« erwiderte Riethschel, »keines Künstlers gedenkt man weniger bei Betrachtung seiner Werke, als des Bildhauers; im Allgemeinen haben die Menschen gar keinen Begriff von dem Wesen seiner Thätigkeit. Uebrigens – je vollständiger unsere Individualität verschwindet hinter dem, was wir darstellen, desto besser ist es ja. Mag man unsere Persönlichkeit vergessen; was liegt daran, wenn nur unser Werk besteht!« »Das Material, in welchem Sie sich aussprechen, ist jedenfalls dauerhafter als das unsere,« sagte ich scherzend; »auch wenn es halb zerschlagen und zertrümmert wird, bleibt es verständlich und anregend. Wie schade, daß man eine Symphonie von Beethoven nicht in Bronze gießen kann!« »Aber doch den gewaltigen Menschen, in dessen Seele sie entstand!« sagte Rietschel. »Die männliche Geisteskraft, die haben Sie freilich wunderbar verkörpert,« entgegnete ich, »Ihr Lessing ist Lessing's würdig.« »Nur die Stelle,[223] wo er steht, ist seiner nicht würdig,« rief David, »oder ist solch ein Werk nur für die schöne Jahreszeit gemacht?« »Lieber David,« sagte Rietschel, »die einstmaligen Barbaren haben sich leidlich herausgearbeitet, doch ihr Klima bleibt barbarisch in Ewigkeit. Die Kunst des Bildners gehört dem Süden an, und nur dort kann man sie üben, nur dort kann man sie erkennen und genießen. Das Elb-Athen ist kein Athen, so wohnlich es für mich gewesen. Oft noch weile ich dort in glücklichen Gedanken; aber Italien – Griechenland.« Seine Worte zerrannen meinem Ohre wie seine Gestalt meinem Blicke.

»Kannst du mich Beethoven's Antlitz schauen lassen?« frug ich Mendelssohn. »Beethoven ist hier sehr zugänglich,« erwiderte er. »Er ist im Grunde so herzlich gut, wenn sich sein Humor auch zuweilen etwas feuerspeiend kundgibt. Warte hier!« Die Freunde verließen mich; in bangem Harren stand ich da, bis ich, Mendelssohn's Stimme erkennend, leise aber deutlich meinen Namen rufen hörte. Schnell ging ich der Richtung nach, woher er klang, und sah plötzlich Beethoven vor mir stehen. »Sie waren also zugegen,« sprach er, »als man mich unten begrub? Welch eine Betheiligung! Es gab etwas zu schauen, und da waren die guten Wiener gleich bei der Hand. Als ich ihnen meine größten Werke vorführte, kamen sie spärlich! Das hat sich seitdem geändert, ich weiß es; ich glaube fast überall schon allzu verständlich geworden zu sein, im Süden wie im Norden! Das hat aber gute Wege. Wie viel Erklärungen werden mir zu Theil, es sind aber keine Verklärungen! Ich habe in Tönen gesprochen – ich war ein Tonredner, aber kein Uebersetzer der Flachheiten, die man mir unterschiebt. Allen Respect vor euren Musicanten, die spielen mich jetzt besser, als ich mich je gehört, sie sollen aber des Guten nicht zu viel thun wollen. Einfach sein und wahr – deutlich genug habe ich hingeschrieben, was ich wollte. Ihr hab manche tüchtige Kerle gehabt, seitdem ich hieher gekommen, und auch jetzt fehlt es nicht daran. Sie versuchen allerlei, nur sollten sie mich dabei aus dem Spiele lassen – mich nicht fortsetzen wollen – ich war ich – Jeder sei, was er ist – suche sich Jeder auf seine Weise zu entwickeln – aufrichtig – ohne Nebenabsicht – stete[224] Entwicklung – stetes Schaffen – Anderes, wo möglich Besseres – das ist der Inbegriff alles Lebens – der Menschheit und ihrer Kinder – und was könnten auserlesenste Wesen mehr thun?«

Wie manche Frage hatte ich auf den Lippen! Ehe ich jedoch sie zu öffnen gewagt, fand ich mich allein mit Mendelssohn, der mir nicht ohne Rührung ins Auge schaute, aber schnell zu seiner anmuthigen Heiterkeit zurückkehrend lächelnd sagte: »So viele Tage, wie seit unserem letzten Zusammensein auf Erden, werden bis zum nächsten hier nicht hinfließen. Leb wohl und schriftstellere nicht zu viel – du warst und bist ja doch ein Musikus, und – das ist noch nicht das Schlimmste. Benutze die Zeit, die dir unten noch geschenkt wird!« Erwidern durfte ich nichts mehr.

Ein Wiedersehen hatte ich mir aufgespart für den letzten mir vergönnten Moment, in der Ueberzeugung, daß es dazu keiner Leitung bedürfen werde. Die Stärke meiner Sehnsucht würde hinreichen, dessen war ich sicher. Ich schaute meine theuren Eltern – sie sprachen zu mir – sie segneten mich – in unveränderlicher Liebe hatten sie mich begleitet auf meinen Wegen. – – –

Lange schon hatte ich am Schreibpult gesessen – weder die Feder zu ergreifen noch ein Buch hatte ich Kraft oder Begierde gefühlt. Da ertönten Kinderstimmen vor meiner Thür – ich sprang auf und hinaus, und mit freudigem Herzen hob ich die kleine Marie empor und drückte ihr einen Kuß auf die Stirn.


(Geschrieben im Frühjahr 1881.)[225]

Quelle:
Hiller, Ferdinand: Erinnerungsblätter. Köln 1884, S. 221-226.
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