Frankfurter Tonkünstler vergangener Zeit.

[89] Ist es die Folge der alternden Eindrucksfähigkeit die den Gestalten aus der Jugend so scharfe Umrisse verleiht, oder glätten sich heutigen Tages durch verstärkte Reibung die Ecken und Spitzen der Individualitäten in höherem Grade ab? – ich weiß nicht zu entscheiden. Aber mir däucht, da sich gegenwärtig in seiner deutschen Stadt ein Kreis so eigenartiger Tonkünstler vereinigt findet, wie er sich in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts in Frankfurt am Main, meiner schönen Vaterstadt, gebildet hatte. Kein Talent ersten Ranges gehörte in denselben – vortheilhaft, zum Theil weithin bekannt waren alle. Geboren in den Jahren 1770 bis 1790 zwischen Rhein, Main und Donau, befand sich nur Ausländer kein einziger Frankfurter unter ihnen. Nach mancherlei Schicksalen, Reisen, Aufenthalten in der Fremde hatten sie sich allmählich in der lieblichen Mainstadt behaglich festgesetzt, waren dort in verschiedenartiger Weise künstlerisch thätig, – und fast alle auch ruhen dort aus von den Beschwerden dieses Lebens. Mehr oder weniger waren sie in damaligen eng-gemüthlichen Frankfurt zu public characters geworden (ich weiß keinen deutschen Ausdruck dafür); man nannte sie[90] leise, wenn man ihnen in den Promenaden begegnete – man zeigte sie sich in Concerten. Während meiner frühesten Knabenjahre hatte ich das Glück, von ihnen allen gemocht zu sein – später wurden nur einige derselben zu aufrichtigen Freunden, während keiner der andern meinem Gesichtskreis entschwand, ehe er seinen Abschied auf ewig genommen.

Als sein treuergebener Schüler nenne ich zuerst Aloys Schmitt, welchem seine Clavierübungen eine Popularität verliehen, die er jedenfalls lieber durch andere bedeutendere seiner Leistungen gewonnen hätte. Gegen dergleichen ist aber nichts zu thun. Ich war ein neunjähriger Knabe, als er auf Ersuchen meiner Eltern eines Abends, im Winter bei uns eintrat; seine äußere Erscheinung berührte mich aufs lebhafteste. Die braune, tief auf die Stirn herabgezogene Pelzmütze, der vom Schnee bedeckte Mantel gaben ihm in meinen Augen etwas Hochromantisches – dazu die hohe Gestalt, die langen Haare und der tiefe Blick der blauen Augen, der sich oft in unergründlicher Träumerei oder transcendentalen Nachdenken aufzulösen schien. Nachdem ich ihm etwas vorgefingert, willigte er ein, mich als einen seiner Schüler anzunehmen, deren er zu jener Zeit eine kleine Schar (alle bedeutend älter als ich) um sich versammelt hatte. Der romantische Eindruck, den ich im ersten Augenblick empfangen, erwies sich für die nächsten Jahre als ein dauernder und gerechtfertigter. Schmitt schwärmte für Jean Paul, für Uhland, er schwärmte für seine Kunst, für unsere großen Meister, er schwärmte in seinen eigenen Compositionen, er schwärmte aber vor Allem für eine schöne, hochgebildete Israelitin, die er auch als Gattin nach manchen Schwierigkeiten, heimführte, um an ihrer Seite ein langes, glückliches Leben zu vollenden. In hohem Grade beherrschte mein neugewonnener Lehrer die Rede, und meine flammende Liebe zur Musik fand in seinen exaltirten Ergüssen stets neue Nahrung. Sonderbarer Weise hörte ich ihn sowohl damals als später fast nie Clavier spielen und es blieb mir nur eine unklare Erinnerung an das, was sein Talent so hervorstechend und seitens bedeutender Künstler und Kunstrichter so preisenswerth gemacht hatte. Doch glaube ich nicht zu irren, wenn ich sage, daß er, neben bedeutender[91] Technik, durch eine gewisse Ueberschwenglichkeit des Vortrags sich auszeichnete, welche in jener Epoche ganz besonders hervorzutreten geeignet war.

Aloys Schmitt war der Sohn eines Cantors in Obernburg, einem kleinen Städtchen am obern Mainnfer, und blieb, so lange der Himmel es erlaubte, mit seinen biedern Eltern in einem patriarchalischen Verhältniß. Auch seinen Jugendgewohnheiten blieb er treu – er liebte es, außerhalb der Stadt zu wohnen und war ein leidenschaftlicher Jäger. Ich mochte zehn Jahre alt sein, als ich während der Schulferien auf acht bis zwölf Tage mit ihm nach Obernburg ziehen durfte – mein Vater erwartete von dieser Reise eine wunderbare Förderung meiner musicalischen Fertigkeiten – aber Schmitt jagte und ich plünderte die Pflaumenbäume. Zu jener Zeit wohnte er am äußersten Ende der berühmten Frankfurter Vorstadt Sachsenhausen in ländlicher Zurückgezogenheit. Er versammelte oftmals dort seine sich der Musik professional bestimmenden Schüler, die dann ihr Bestes thun mußten, um sich gegenseitig auszustechen – ihr Bestes bedeutete zwar nichts Ausgezeichnetes –, die ganze Art des Zusammenseins hatte jedoch einen kameradschaftlichen, treuherzigen Charakter – es war ein Meister mit seiner Schule – der Glaube und die Begeisterung spielten die Hauptrolle. Mir verschaffte meine übermäßige Jugend eine bevorrechtete Stellung unter den jungen Männern, die sich darin gefielen, mich zu verziehen. Manchem von ihnen begegnete ich in späteren Lebensjahren hier und dort wieder, theilweise in guten, gesicherten Stellungen, zu unserer gegenseitigen Freude.

Nachdem Schmitt in München und in Berlin, namentlich aber in Hannover, wo der Herzog von Cambridge ihn sehr auszeichnete, längere Jahre gelebt hatte, siedelte er sich in Frankfurt an, um diese seine zweite Vaterstadt nicht mehr zu verlassen. Sein Leben dort trug mehr den Charakter des Wirkens eines begüterten und begeisterten Kunstfreundes als eines zu ewigem Kampfe gezwungenen Tonkünstlers. Er beschäftigte sich zwar mit der Ausbildung junger Pianisten und componirte eine große Anzahl von Werken aller Gattungen, von welchen allzu wenige bekannt geworden sind – trat aber selten in[92] die Oeffentlichkeit. Die allgemeinste Hochachtung wurde ihm zu Theil. – Bald schon nannte man ihn den »alten Schmitt«, da sein Sohn, der jetzige vortreffliche Hofcapellmeister in Schwerin, durch ein frühzeitiges Talent und da er den Vornamen des Vaters trug, als »der junge Schmitt« bezeichnet wurde.

Schon nachdem mir die ersten Clavierstunden von ihm geworden, führte mich Schmitt zum »alten Vollweiler«, einer andern bedeutenden Persönlichkeit der Gruppe, der diese Blätter gelten; ich genoß durch mehrere Jahre dessen ununterbrochenen Unterricht in Harmonie und Contrapunct.

Von Haus aus war Vollweiler Violoncellist in der Mannheimer Capelle gewesen – schon dort hatte er ein solches Ansehen als Theoretiker gewonnen, daß der viel genannte Joh. André sich zu ihm begab, um seine Studien zu vervollständigen. In Frankfurt verlebte er dann lange Jahre als einer der geachtetsten Lehrer (auch des Clavierspiels) und beschloß sein wirkungsvolles Dasein bei seiner in Heidelberg verheiratheten Tochter. Sein Sohn, der in Rußland eine erfolgreiche Laufbahn als Pianist begonnen hatte, starb im besten Mannesalter.

Man kann sich keinen größern Gegensatz denken, als den der Persönlichkeit Vollweiler's zu dem Bilde, das man sich gemeinhin von einem Theoretiker zu machen pflegt. Zwar nicht in seiner äußern Erscheinung; denn er war lang und hager, grau und kahl, seine Züge waren von ruhigem, wenig hervorstechendem Ausdruck. Aber welch ein sprudelnder Eifer, welch eine Leidenschaftlichkeit sobald er zu sprechen begann! Seine Worte stolperten über einander, seine trotzdem durchaus klaren Auseinandersetzungen brachten ihn fast zur Athemtlosigkeit – fieberhaft gab er seinen Ueberzeugungen Ausdruck. Er hatte seine Lehre vollständig schriftlich ausgearbeitet – nicht weniger die dazu gehörigen Uebungen (auch für's Clavierspiel), ohne sie zu veröffentlichen – die Schüler mußten sich die Hefte abschreiben. Ueber die Maßen reichhaltig war die Art und Weise, wie er, namentlich in der Harmonielehre, seine Zöglinge zu beschäftigen, ihre Fertigkeit auszubilden beflissen war. Ich erinnere mich, daß er mir auf Spaziergängen[93] modulatorische Aufgaben stellte, die ich, selbstverständlich ohne Papier und Clavier durch genau bezeichnende Nennung der sich folgenden Accorde zu lösen hatte. Dann mußte ich wieder schriftliche Analysen Bach'scher Fugen, Mozart'scher und Beethoven'scher Sonaten aufsetzen. Der Unterricht war ihm eine Lust, und obschon er den ganzen Tag nichts Anderes that, schien er nie an Ermüdung, viel weniger an Ueberdruß zu leiden. Fand man ihn dann Abends in dem hintersten Winkel eines Concertsaales, so konnte man darauf zählen, in jeder Pause den eingehendsten, eifrigsten Besprechungen des eben Gehörten lauschen zu dürfen – er war, mit seinen Schülern wenigstens, Lehrer immer und überall.

Den beiden genannten Männern stand I.A. André sehr nahe – er hatte (wie schon erwähnt), obwohl nur um wenige Jahre jünger als Vollweiler, eine Zeit lang unter dessen Leitung gearbeitet. Aloys Schmitt hingegen hatte seine besten Lehrjahre im Hause André's verlebt. Obschon letzterer im benachbarten Offenbach wohnte, kam er so oft nach Frankfurt, daß man ihn, ohne allzu ungenau zu sein, zu den Tonkünstlern der freien Stadt rechnen kann. Man darf eine allgemeine Kenntniß dieser Localitäten und Beziehungen voraussetzen, nachdem Goethe den Vater André's als seinen Jugendfreund und Jugendcomponisten und Offenbach durch seine Liebe zu Lili unsterblich gemacht hat. Offenbach ist zwar durch mannigfaltige ausgezeichnete Fabriken, ganz besonders auch durch seine Pfeffernüsse eine berühmte Stadt geworden; den hübschen poetischen Heiligenschein, von dem es umstrahlt ist, verdankt es jedoch Goethe und – den beiden Andrés, Vater und Sohn. Letzterer war eine hochinteressante Persönlichkeit. Nicht ohne Aehnlichkeit mit Vollweiler in seiner großen Lebendigkeit, seiner übersprudelnden Rede, seinen musicalischen Anschauungen, hatte er vor letzterem doch Vieles voraus. Er mußte in seiner Jugend ein schöner Mann gewesen sein, mit seinen leuchtenden Augen und den feingeformten Lippen – eine angeborene und anerzogene Freiheit zeigte sich in der Leichtigkeit seines Benehmens – er war viel gereist und in mannigfache Berührungen mit bedeutenden Männern gekommen – geistreich, zuweilen paradoxal in seinem[94] Urtheil – dabei begabter Tonsetzer, angesehener Verleger, – Hofrath, um mancherlei Anderes mit Einem Wort zu bezeichnen.

Sein Haus, das noch obendrein in seinen Mauern eine schöne Tochter (sie wurde die Gattin des berühmten Pianofabricanten Streicher in Wien) und die sämmtlichen Manuscripte Mozart's barg, war eine Art von Wallfahrtsort für alle Tonkünstler geworden, die Frankfurt besuchten. Zu plaudern oder vielmehr zu discutiren und zu disputiren, Musik zu machen, seine Schätze mancherlei Art zu zeigen, dazu war André stets bereit. Um die Herkunft eines Accords zu beweisen, bestieg er sechs Mal in einer Viertelstunde die Leiter seiner Bibliothek, hier einen Band Kirnberger, dort ein Manuscript oder eine alte Partitur hervorsuchend. Sein Steckenpferd war die richtige Declamation der Worte in der Vocalumsik. Eine große Anzahl von Liedern und Gesängen, die er herausgegeben und unter welchen sich einzelne sehr hübsche befinden, schienen fast mehr in der Absicht componirt, Beispiele für die Behandlung des Textes zu geben, als einem schöpferischen Drange Genüge zu leisten – die Specialisten des Wortausdruckes und der Silbenbetonung würden in seinen derartigen Productionen sicherlich überaus schätzbares Material finden. Ich hatte oft die Freude, ihn nach seinen Besuchen in Frankfurt in Gesellschaft des Einen oder Andern nach Offenbach zurückbegleiten zu dürfen; das Bild des alten Herrn, wie er, seinen Rock auf die Schulter werfend, in Hemdsärmeln frisch drauf los ging, ohne einen Augenblick das Gespräch ins Stocken gerathen zu lassen, steht mir noch sehr lebhaft vor Augen.

Zu diesen beiden Männern der ältern Generation aus den siebenziger Jahren gehörten noch die beiden Brüder Hoffmann, aus Mainz gebürtig. Schon als Knaben hatten sie sich, der Eine als Geiger, der Andere als Pianist hervorgethan und bewahrten als eine Art von Adelsdiplom die glorreiche Erinnerung an ihr Auftreten vor Mozart, als dieser zur Krönung Kaiser Leopold's in Frankfurt concertirte. Man sagte, Mozart habe mit dem Einen vierhändig gespielt und sich von dem Andern einige seiner Sonaten begleiten lassen. Der Interessantere war jedenfalls der Clavierspieler, den man den[95] »russischen Hoffmann« nannte, weil er während einer längern Reihe von Jahren in Petersburg gelebt und sich dort eine financielle Unabhängigkeit erobert hatte. Ein kleines, stark verwachsenes Männchen, trug er nicht allein die unerwünschte Gabe, mit welcher der Himmel ihn ausgezeichnet, sondern auch den Kopf hoch und bewegte seine kleine Gestalt mit ruhigem, vornehmem Austande. Tagtäglich konnte man ihn die Promenade bedächtigen Schrittes und mit der Miene ernsten Nachdenkens durchwandeln sehen. Von Haus aus nicht zum Musiker bestimmt, hatte er eine wissenschaftliche Erziehung genossen und war ein bedeutender, leidenschaftlicher, ich glaube auch bekannter Entomologe – seine Käfer- und Schmetterlingssammlungen wurden viel bewundert. Sein Clavierspiel, was denn doch die Hauptstache, war etwas trocken und kühl, doch nicht ohne Anmuth; von der peinlichsten Sauberkeit, Klarheit und Nettigkeit. Einige Claviercompositionen, die er veröffentlicht hat, besitzen dieselben Eigenschaften. Sein Gott war Mozart – unter den Pianisten betrachtete er Field, mit dem er in Rußland viel verkehrt hatte, als den Propheten. Auch seine Redeweise und sein Urtheil waren präcis und scharf. Von der Oeffentlichkeit hatte er sich gänzlich zurückgezogen wie auch von der Thätigkeit als Lehrer. Doch studierte er mir während einer der langen Pausen, die in meinem Clavierunterricht durch die Reisen Schmitt's eintraten, einige Stücke ein; ich glaube, nie mehr seitdem irgend etwas so fleckenlos gespielt zu haben.

Der Bruder, ein großer stattlicher Mann, als classischer Geiger geschätzt, war durch den größsten Theil seines Lebens Concertmeister im Frankfurter Orchester – ein paar Mal während des einen oder des andern Interregnums genoß er auch der capellmeisterlichen Gewalt. Seine allzugroße Ruhe zeigte sich allein in der vollkommenen Gleichgültigkeit, mit welcher er den Dirigentenstab annahm und niederlegte, sondern auch in der Art, wie er ihn führte – Eins ging aus dem Andern hervor. Trotzdem liebte er seine Kunst und war durchgebildeter Tonsetzer, wovon seine Duette für Violine und Violoncell, deren er eine größere Anzahl geschrieben und von welchen man fast jedes Mal in seinem alljährlichen Concert eins zu hören bekam, unwiderlegliche Beweise geben würden – wenn man sie suchte.[96]

Ich gelange nun zu den Tonkünstlern aus den achtziger Jahren, von welchen mein Lehrer Aloys Schmitt der jüngste gewesen. Fast in demselben Alter stand Karl Guhr, über ein Vierteljahrhundert in Frankfurt als Capellmeister und theilweise auch als Theaterdirector thätig – einer der populärsten Männer meiner Vaterstadt in diesem Jahrhundert. Seine Persönlichkeit mußte einen eigenthümlichen Reiz ausüben – denn nicht allein deren Schwächen, auch die guten Eigenschaften gehörten einer Gattung an, welche das damalige ruhige, sittsame Frankfurt eigentlich hätte perhorresciren müssen – indeß es kommt ja häufig genug vor, daß die untadeligsten Frauen sich für sogenannte liebenswürdige Taugenichtse begeistern, vollends wenn sie nach irgend einer Seite hin begabt sind. Begabt aber war Guhr in hohem Grade. Von Geburt ein Schlesier, ermangelte er nicht der Gewandtheit, der Leichtigkeit in Sprache und Wesen, wie man sie diesem Volksstamme nachrühmt. Frühreifer Musikus, und zwar Virtuose auf dem Clavier, der Geige, ja, sogar der Clarinette, geübter Componist, hatte er sich seit seinem 16. Jahre in mancherlei Städten als Dirigent umhergetrieben und zuletzt in Kassel eine gute Stellung gefunden. Was ihn bewogen, die hessische Residenz mit der freien Stadt zu vertauschen, weiß ich nicht – der Kurfürst aber hatte den guten Einfall, Spohr an seiner Statt zu berufen. Auch einige Opern hatte Guhr aufgeführt – unter Anderem es unternommen, den Text der Vestalin neu zu componiren, ohne jedoch durch seine Musik die Spontini'sche verdrängen zu können. In Frankfurt brachte er keines seiner Werke auf die Bühne – als Virtuose begnügte er sich damit, alljährlich einmal in seinem Benefizconcert sich auf dem Piano und der Geige hören zu lassen – die Direction der Oper, in allen Beziehungen, nahm ihn fast ausschließlich in Anspruch – auch die Museumsconcerte standen unter seiner fast absoluten Leitung. Es ist gar nicht zu leugnen, daß Guhr die frankfurter Oper zeitweise zu hoher Blüthe gebracht, sowohl durch die Gesangeskräfte, die er zu vereinigen verstand, als durch die frische, lebendige Weise, in welcher die Aufführungen zuwege kamen. Die Kehrseite war der unendliche Leichtsinn, der in Allem hervortrat. Höchst ergötzlich war es, den[97] mittelgroßen, lustig dreinschauenden Mann mit seinen stets gebrannten braunblonden Locken, seinen in allen möglichen und unmöglichen Farben schillernden Anzügen am Pulte stehen zu sehen, die linke Hand gewöhnlich in die Seite gestemmt, mit der rechten den Tactstock schwingend, die Blicke überallhin sendend, wo sie nöthig oder auch unnöthig. Viel Detailarbeit wurde nicht verschwendet – aber es war Zug im Ganzen. Auch mit Zusetzen und Weglassen wurde es nicht allzu genau genommen. Schlimmer sah es zuweilen in den Museumsconcerten aus. Während unsere jüngern Dirigenten die aufzuführenden Stücke auswendig lernen, sah sich Guhr ein neues Instrumentalstück gar nie an, ehe er an die Spitze des Orchesters trat. »Wie geht das Ding eigentlich? Sie kennen's ja wohl?« wandte er sich in einer Probe an mich, als Mendelssohn's Ouverture »Die schöne Melusine« zum ersten Mal aufgeführt werden sollte. Bei der ersten Aufführung der »Weihe der Töne« von Spohr fand sich die kritische Stelle, wo drei verschiedene Motive zusammen erklingen, so ungenügend vorbereitet, daß Guhr drei Mal von vorn anfangen mußte, um schließlich mit Mühe und Noth durchzukommen! »Es ist gar so schwer!« wandte er sich lächelnd aus Publicum – und führte dann, als amende honorable, das Stück ein paar Tage später während eines Zwischenacts im Theater auf. Alles das schadete ihm nicht – und, was noch merkwürdiger, seine permanenten, stets wechselnden Liebschaften, seine Schulden und schlimmere Dinge noch, die ihm vor geworfen wurden, trugen eigentlich nur dazu bei, ihn zu popularisiren, da er beständig im Munde der Leute war. Sein Hauptaufenthalt war der Theaterplatz, wo er alle Wohnungen, die ihn interessirten, in der Nähe hatte, umherspazirte, Audienzen gab, Versammlungen hielt – eine Art von Zelt eines Höchstcommandirenden. Einer seiner gerühmtesten Geniestreiche war der, daß er, etwa ein Jahr, nachdem Paganini in Frankfurt aufgetreten, ein von ihm, Guhr, á la Paganini componirtes Concert öffentlich spielte und darin die Hauptkunststücke des berühmten Genuesen nachzuahmen versuchte. In der Folge gab er sogar eine auf Paganini's Stil beruhende und seine Spielweise erklärende Violinschule heraus. Sein Tod fiel in die erste Monate[98] der achtundvierziger Bewegung und dem Eindruck desselben thaten die Sitzungen in der Paulskirche Eintrag. Sicherlich aber gedenken noch viele ältere Frankfurter der Guhr'schen Epoche als eines goldenen Zeitalters ihrer Oper.

In seiner Wirksamkeit mit einem solchen capellmeisterlichen Virtuosen nicht zu vergleichen, stand hoch über ihm der Schweizer Schnyder von Wartensee durch Herzens- und Geistesbildung. Der Musik, für die er nicht erzogen gewesen, hatte er sich in begeisterter Liebe zugewandt, in Wien studirt und sich in Frankfurt als Lehrer niedergelassen, nachdem er eine Zeit lang in dem bekannten Institut Pestalozzi's zu Yverdon angestellt gewesen. Sein Clavierspiel war gering, in der Tonsetzkunst hatte er jedoch nicht allein die gewissenhaftesten Studien gemacht, sondern auch bedeutende contrapunctische Fertigkeit erlangt. Seine Neigung zum Scharfsinnig-Combinatorischen führte ihn vielleicht allzu sehr künstlichen Aufgaben zu, und da er nicht eigentlich schöpferisch begabt war, zeichneten sich seine Compositionen mehr durch die Verbindung als durch die Erfindung der melodischen Gedanken aus. Doch ist ihm Manches wohlgelungen – so z.B. war sein Chor »Ueber allen Gipfeln ist Ruh«, den man im Cäcilienverein oft sang, von schöner, ja, poetischer Wirkung. In den Meisterwerken unserer Classiker lebte und webte er. Sein Ruf als Lehrer hatte sich weit verbreitet – aus England und America kamen junge Leute, um bei ihm zu studiren. Unter seinen deutschen Schülern ist I. Rosenhain wohl der bedeutendste und bekannteste geworden.

Was Schnyder Allen, die ihm näher kamen, lieb und verehrungswerth machen mußte, war die geistvolle Frische seines Wesens, die Höhe seiner Anschauungen, die Wärme und Lebendigkeit, mit der er allem entgegenkam, was irgend die Theilnahme eines echten Mannes hervorrufen konnte. Er war ein humaner Mensch, wenn ich mir diesen halben Pleonasmus erlauben darf. Schon sein Aeußeres imponirte. Sehr groß und stark gebaut, wie man sich einen Vierwaldstätter Mann denken mag, trugen seine Züge den Ausdruck des Frohsinns, der Güte und Gescheitigkeit – aus seinen klaren Blicken zuckte nicht selten witzige Schlauheit hervor. Eigenthümlich wirkte[99] seine Rede, da er das beste Deutsch mit dem stärksten schwyzerischen Accent versetzte. Stets lebhaft und anregend, wurde er doch nie heftig. Und sein Interesse erstreckte sich über alles, was Poesie und Kunst und Natur und Wissenschaft, allgemeine und private Verhältnisse darbieten. Seine Auffassungen trugen oft den Stempel der Originalität, stets den der Selbständigkeit – über Allem aber und trotz einiger Eitelkeit trat jene Heiterkeit des Geistes hervor, die, nur den bedeutendsten Menschen eigen, ihrem Wesen etwas Hochschwebendes verleiht, was ein klares Erkennen des Kleinen nicht ausschließt, aber sie selbst vom Kleinlichen so viel wie möglich fern hält. So bot denn sein Gespräch eine Fülle von Belehrung und Anregung – seine Beurtheilung der Versuche, die man ihm vorlegte, war fördernd und auch dann ermunternd, wenn sie tadelnd ausfiel. Schon in meinen jüngsten Jahren schenkte er mir stundenlang die Freude seines Umgangs – ich erinnere mich, daß wir in kalten Winternächten uns bis um Mitternacht immer wieder gegenseitig nach Hause begleiteten. Zum letzten Mal sah ich ihn auf einem von mir geleiteten Niederrheinischen Musikfeste, wohin er mit seiner zweiten Gattin gekommen war, jugendlich frisch, obschon im Jahre 1786 geboren. Er verschied in Frankfurt im Jahre 1868 als Letzter des Kreises, dessen Zierde er so lange gewesen.

Ueber den uns leider schon im Jahre 1837 entrissenen Freund I.N. Schelble durfte ich mich schon bei Gelegenheit des fünfzigjährigen Jubiläums des Frankfurter Cäcilienvereins nach Herzenslust aussprechen. Er war der Gründer dieses, eines der ersten, der Zeit und dem Range nach, unter den Gesangvereinen Deutschlands, und ich habe keinen Tonkünstler während meines langen Lebens kennen gelernt, der in gleichem Maße den hohen Forderungen entsprochen hätte, welche an den Leiter einer solchen Institution gestellt werden müssen, wenn ihren bedeutsamen Zielen vollständig Genüge geleistet werden soll.1 Schelble war eine ideale Persönlichkeit, ein nach allen[100] Seiten hin durchgebildeter Tonkünstler, vortrefflicher Sänger, ausgezeichneter Clavierspieler, verständnißvoller, doch nie schriftstellernder Kritiker, fester und feuriger Dirigent – begeistert für sein Werk, – in seiner Thätigkeit ebenso unermüdlich wie klug und energisch. Wie viel Bildung und Liebe zur ernsten Tonkunst er seiner Zeit in weiten Kreisen Frankfurts verbreitete, ist gar nicht zu sagen – das Beste, was die schöne Mainstadt nach dieser Seite hin besitzt, stammt noch von ihm her. Die Dankbarkeit, die ich ihm persönlich schulde, wird nie erlöschen, wie auch das Gefühl des Verlustes über sein allzufrühes Ende.

Indem ich die Gestalten jener Männer, die ich vor mehr als sechszig Jahren zum ersten Male gesehen, in meiner Erinnerung möglichst klar hervorzurufen und für sie die Theilnahme freundlicher Leser zu gewinnen suche, erfüllt mich die wohlthuende Empfindung, bei meinen ersten musicalischen Anfängen den Antheil vortrefflicher Künstler genossen zu haben. Ich kann nur den Wunsch hegen, daß ein ähnlicher meinen letzten Arbeiten nicht fehlen möge, während ich aufrichtig bemüht bin, strebsamen Jüngern das zu leisten, was mir einst in so fördernder Weise zu Theil geworden ist.

Fußnoten

1 Während man in den Musiker-Lexiken einer großen Anzahl Namen von Leuten begegnet, die nie etwas bedeuteten, habe ich Schelble's Name in den mir bekannten Sammlungen nirgends gefunden.


Quelle:
Hiller, Ferdinand: Erinnerungsblätter. Köln 1884, S. 101.
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