Meine Zellengenossin.

[165] Eines Tages besuchte mich die neuangestellte Oberaufseherin in meiner Zelle. Dies war durchaus nichts außergewöhnliches, denn seit ihrem Eintritt in ihr Amt hatte sie das zuweilen getan. Das geschah nicht etwa nur bei mir allein. Doch ging diese wirklich seine Frau auch nicht zu allen Gefangenen, sondern erzeigte die Ehre nur mit Auswahl. Sie kam dann im guten, anständigen Hauskleid, mit seinem, nettem Schürzchen darüber, was sie stets trug, am Arme aber hing ihr ein Schlüsselkörbchen. Das machte einen freundlichen, hausmütterlichen Eindruck, und dementsprechend war auch das Wesen der würdigen Vorgesetzten.

Diesmal ließ sie es nicht bei einer kurzen allgemein gehaltenen Unterredung bewenden, begann vielmehr sogleich auf ihr Ziel loszusteuern.

»Sagen Sie mal – Sie sind doch wohl auch[165] nicht gern immer allein? Ich habe Ihnen eine Gefährtin zugedacht. Es ist Ihnen doch lieb, nicht wahr?«

»Ach nein, Frau Oberaufseherin, das ist mir gar nicht lieb. Ich möchte viel lieber allein bleiben,« sagte ich.

»Aber warum denn nur?« fragte sie verwundert. Sie hatte jedenfalls weit eher eine Freudenäußerung er wartet.

»Ich habe durch den Herrn Pastor die Selbstbeschäftigung mit literarischer Arbeit erlangt. Eine Gefährtin würde mich doch darin nur stören,« erklärte ich.

»Das sehe ich nicht ein,« war die Antwort. »Natürlich bleiben Sie nicht in dieser Zelle. Sie bekommen eine größere, eine Doppelzelle. Dann haben Sie schon Platz.«

Wie es sonach schien, war schon alles entschieden. Dennoch versuchte ich, dieser unangenehmen Eventualität auszuweichen.

Meine Bitte wurde jedoch nicht berücksichtigt.

»Das geht nun nicht mehr zu ändern. Das ist jetzt einmal so bestimmt,« erklärte sie kurz. »Sie stellen sich das viel schwerer vor. Versuchen Sie es mal erst acht Tage. Dann – wenn es Ihnen nicht paßt, können Sie sich immer vormelden und sagen, Sie hätten sich das anders gedacht. Sie bäten,[166] wieder allein sein zu dürfen. Dann wird sie Ihnen wieder weggenommen. Ich denke aber, Sie werden sich daran gewöhnen,« setzte sie hinzu.

Später fragte ich eine andere Beamtin, ob und wie ich das wohl umgehen könne.

»Das glaube ich nicht,« meinte diese kopfschüttelnd. »Jede andere würde froh sein, wenn sie nicht allein zu sein brauchte,« verteidigte sie ihren Standpunkt.

»Aber ich nicht, Frau Aufseherin,« erwiderte ich wie von trüber Ahnung gequält.

Bald aber wurde das anders. Ich wurde nach dem dritten Stockwerk beordert, in eine schöne, helle Doppelzelle geführt, wo ich von da an mit der mir zugesellten Genossin hausen sollte. Diese selbst, eine jungverheiratete Frau, und Mutter eines kleinen, reizenden Knaben, an dem sie mit großer Zärtlichkeit hing, war eine mir durchaus sympathische Persönlichkeit, die es binnen kurzem verstanden hatte, sich mein Mitgefühl, meine volle Anteilnahme zu gewinnen.

Mein Empfinden für das unglückliche junge Weib war so warm geworden, daß ich nicht nur selbst keine Schritte tat, um mich wieder von ihr zu befreien; sondern als der junge Pfarrer von seiner Urlaubsreise zurückgekehrt und sehr unangenehm überrascht war über diese Zusammenlegung, wehrte ich dem Eifer, mit dem er sich bereit erklärte, uns wieder zu trennen.[167]

Ich wollte von der Armen jetzt gar nicht wieder separiert sein, die mit so großer Zärtlichkeit Mann und Kind liebte und sich schmerzlich nach ihnen sehnte, der es ein Trost war, sich wenigstens gegen eine mitfühlende Seele über ihren Kummer aussprechen zu können.

Gleich war das allerdings nicht so gekommen, obschon die Trostbedürftige sich sofort sehr zutraulich an mich anschloß. Im Gegenteil hatte gerade die große Vertraulichkeit, mit der sie mir, der völlig Fremden, entgegenkam, mich anfangs stutzig gemacht. Ich fürchtete, man wolle mir eine Falle stellen und habe mir zu diesem Zweck eine schlaue Spionin beigesellt, die mich aushorchen solle.

Indessen überzeugte ich mich bald von der Grundlosigkeit meiner Befürchtungen. Die junge Frau vertraute sich mir an mit all ihren Sorgen und Qualen, mit Schmerz, Liebe und Reue.

Aber gerade diese beinahe kindliche Offenheit, mit der sie mir ihr Herz öffnete, – sie sollte mir zum Verderben gereichen.

Ich wollte mich der Unglücklichen annehmen, die weiter nichts begangen hatte, als Jahre zuvor ihrem ohnehin schwächlichen Körper zu schaden, durch das sogenannte »Verbrechen gegen das keimende Leben«. Bereits leidend war sie in der Gefangenenanstalt angekommen, und obgleich sie[168] sich als Untersuchungsgefangene von den Geldmitteln, die ihre Verwandten ihr ausreichend zukommen ließen, resp. für sie einzahlten, verschiedene Erleichterungen beschaffen konnte, so zehrte doch das Getrenntsein von ihren Lieben, die Einsperrung selbst an ihren Lebenskräften.

War es ein Wunder, daß ich von tiefem Mitleid erfüllt wurde für das unglückliche junge Weib, das sich ständig in den schmerzlichsten Klagen erging über ihr schweres Geschick und die ihr drohende harte Strafe.

So versuchte ich nicht nur ein Gnadengesuch für die Leidende zu erwirken. Ich mischte mich auch, als mir das nicht gelang, von ihrem Jammer, den ich fortgesetzt mit durchzuleben gezwungen war, selbst aufs höchste gefoltert, in anderer, unerlaubter Weise in ihre Strafsache ein.

Die Entdeckung blieb jedoch nicht aus. Und so hatte meine Hilfsbereitschaft ihre Lage nicht gebessert, die meinige aber ganz bedeutend verschlimmert.

Dies waren die Folgen der Zusammenlegung und meine üblen Erfahrungen mit meiner Zellengenossin, an denen sie unschuldig schuld war.[169]

Quelle:
Hoff, Marie: Neun Monate in Untersuchungshaft. Erlebnisse und Erfahrungen, Dresden, Leipzig 1909, S. 165-170.
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