Die Verteidigung.

[203] »Haben Sie denn schon einen Verteidiger?« fragte mich eines Tages der Pfarrer in seiner stets wachen, anteilvollen Sorge um mich, noch lange ehe die Zusammenlegung mit der Zellengenossin stattfand. »Lassen Sie das nicht anstehen. Der B. nimmt ganz gewiß einen tüchtigen Anwalt an. Dann sind Sie im Nachteil,« fügte er hinzu, als ich verneinte.

»Ja, diese Anwälte kosten viel Geld. Soviel steht mir nicht zur Verfügung,« antwortete ich. »Auch kenne ich hier keinen der Herren, an den man sich mit Erfolg wenden könnte.«

»Haben Sie denn noch gar keine Schritte getan?« drängte er.

»Doch! Ich habe an einen Vetter deswegen geschrieben. Er sollte sich bei einem Studienfreund für mich verwenden. Leider übernimmt der aber keine Verteidigung in Strafsachen.«

»Das tun freilich nicht alle. Lassen Sie sich doch vom Untersuchungsrichter das Anwaltsverzeichnis vorlegen.«

Das tat ich denn auch. Landrichter Sch. erteilte mir in der liebenswürdigsten Weise seinen Rat. Ich erbat und erhielt Erlaubnis, an einen der tüchtigsten Rechtsanwälte am Orte zu schreiben, ihn zu bitten,[203] mich zum Zwecke persönlicher Unterredung vorführen zu lassen.

Der jedenfalls vielgesuchte Anwalt ließ jedoch längere Zeit vergehen, bevor er meine Bitte erfüllte. Meinen Brief beantwortete er überhaupt nicht, so daß ich schon glaubte, er wolle die Sache schweigend ablehnen.

Eines Tages wurde ich aber in die Kanzlei der Staatsanwaltschaft vorgeführt. Meine vorgesetzte Behörde hatte bereits wieder gewechselt.

»Doktor.... –« stellte sich ein dort meiner harrender sehr stattlicher Herr kurz vor.

»Sie haben an mich geschrieben,« sprach er weiter. »Ich habe Ihre Akten angesehen. Sie sind sehr umfangreich, erfordern ein langes, eingehendes Studium. Wenn ich Ihre Verteidigung übernehmen soll, müssen Sie mir binnen vierzehn Tagen hundert Mark Kostenvorschuß einsenden. Dann will ich es machen, sonst nicht.«

Darauf grüßte er kurz, und ich wurde wieder abgeführt.

Nun war ich abermals ratlos. Wo sollte ich denn unter meinen jetzigen Verhältnissen gleich hundert Mark hernehmen! Kaum besaß ich noch dreißig Mark Eigentumsgeld, die in der Gerichtskasse für mich verwahrt lagen. Hatte ich mir doch in den allerseltensten Fällen, hauptsächlich nur an Feiertagen die Erquickung[204] eines bestellten Extra-Kaffees gegönnt, trotz allem gutgemeinten Zureden der Aufseherinnen:

»Warum bestellen Sie sich keinen Kaffee?«

»Ich brauche nichts Apartes. Ich bin zufrieden. Was anderen genügt, ist für mich auch gut genug.«

»Nun, das tun doch andere auch, das sind Sie nicht allein. Andere bestellen sich noch viel mehr. Wozu wollen Sie denn das Geld aufheben? Wenn Sie verurteilt werden, dann wird es Ihnen doch weggenommen,« erklärte sie gutmütig.

»Ich hebe es lieber zu nötigerem auf. Ich weiß noch nicht, was ich brauche, ob ich mir nicht einen Verteidiger nehmen muß.« entgegnete ich.

»Dazu wird's wohl nicht langen,« meinte sie mitleidig. »Dazu sparen Sie nur nicht. Die Herren verlangen viel. Wenden Sie lieber was an sich.«

Ich hatte diesen wohlgemeinten Rat nicht befolgt. Jetzt zeigte es sich, daß sie Recht gehabt hatte.

Doch der Pastor sorgte dafür, daß ich den Mut nicht sinken ließ. Er trieb mich ständig an, als sei es seine eigene Sache, nicht die meine.

»Schreiben Sie doch mal an den Vetter,« riet er. »Und wenn er sich windet wie ein Wurm,« versuchte er zu scherzen, »er gibt es Ihnen schließlich doch.«

Ein anderes Mal redete er mir zu, bei jener[205] Dame wegen Hergabe der hundert Mark vorstellig zu werden, die mir früher einmal nach dem Gefängnis geschrieben und mir das Anerbieten gemacht hatte, meine Verpflegung zu bezahlen.

»Die ist gut situiert. Die gibt es Ihnen schon,« sagte er. »Schreiben Sie ihr nur, wieviel für Sie davon abhängt.«

»Das kann sie nicht, das wäre vergeblich,« entgegnete ich. »Sie schreibt ausdrücklich, daß ihr keine großen Mittel zur Verfügung stehen, daß sie indessen gern für meine Verpflegung sorgen wolle. Gleich hundert Mark hergeben könnte sie nicht.«

»Aber haben Sie denn gar niemanden, an den Sie sich wenden können?« fragte er voll herzlichen Anteils. »Wenn ich es hätte, ich würde es Ihnen sofort geben,« versicherte der Gütige. »Leider bin ich nicht in der Lage, Darlehen geben zu können,« setzte er bedauernd hinzu.

So mußte ich denn trotz der rührenden Teilnahme und Hilfsbereitschaft des trefflichen Mannes darauf verzichten, einen der tüchtigsten Anwälte in D. zum Verteidiger zu gewinnen.

Trotz dieses Fehlschlags wurde der brave Pfarrer nicht müde, für mich besorgt zu sein.

»Etwas müssen Sie tun. Sie dürfen wegen des einen Mißlingens nicht den Mut verlieren,« redete er mir zu. »Geht's nicht auf die eine, so geht's[206] auf die andere Weise. Lassen Sie sich melden. Bitten Sie das Gericht, Ihnen einen Verteidiger unentgeltlich zu bestellen. Das geschieht oft. Das haben wir schon häufig gehabt.«

»Das Gericht stellt doch wohl nur in ganz besonders schweren Fällen einen Verteidiger. So habe ich immer gehört,« entgegnete ich.

»O nein, nicht nur in solchen Fällen; bei Lappalien allerdings nicht. Aber nehmen Sie die Sache nicht so leicht. Eine Anfrage steht jedem frei. Lassen Sie sich melden,« drängte er.

Und ich ließ mich melden.

Man führte mich zunächst in die Kanzlei der Staatsanwaltschaft, wo ich einem dort amtierenden Referendar des Landgerichts meine Bitte vortrug.

»Wozu wollen Sie einen Verteidiger?« fragte er kurz, doch nicht gerade unfreundlich. »Sie können doch selbst reden.«

»Man hat mir dazu geraten. Es sei besser, weil mein Gegner sich einen tüchtigen Rechtsbeistand gesichert hat,« entgegnete ich.

»Das können Sie wohl nicht? Tut es Doktor... nicht?« fragte er.

Er war bei der Unterredung zugegen gewesen.

»Ich kann die hundert Mark nicht aufbringen, die er verlangt,« sagte ich.[207]

»Hundert Mark? Ja, billiger wird's keiner tun. Andere verlangen mitunter noch mehr.«

»Man sagte mir, das Gericht stelle Unbemittelten auch auf Wunsch unentgeltlich einen Verteidiger.«

»O ja, das geschieht schon zuweilen. Da müssen Sie sich aber zum Herrn Staatsanwalt selbst melden lassen Ich kann in der Sache nichts tun,« beschied er mich und drückte auf den Knopf der elektrischen Klingel, die in jedem Bureau der amtierende Oberbeamte an seinem Schreibtische hat.

Der Gerichtsdiener erschien.

»Die ist fertig,« meinte der Referendar kurz, mit einer leichten Kopfbewegung auf mich hin weisend.

Darauf wendete er sich ohne mich weiter zu beachten seiner Arbeit zu, während der Gerichtsdiener mich wieder ins Gefängnis zurückbegleitete.

Nun ging am anderen Morgen die Meldung von neuem an, diesmal zum Staatsanwalt. Aber ohne weiteres ließ dieser mich nicht vorführen.

»Sie sollen sagen, was Sie wollen,« lautete der Bescheid, den mir die Aufseherin zurückbrachte.

Ich nannte mein Begehr. So verging wieder ein Tag. Endlich am dritten Tage wurde ich vorgeführt.

Zum erstenmal war der Staatsanwalt etwas weniger unfreundlich zu mir.[208]

»Sie möchten einen Verteidiger gestellt haben? Wie kommen Sie denn darauf?«

Mit diesen Worten empfing er mich.

»Der Herr Pastor riet mir dazu, weil ich nicht die erforderlichen Mittel besitze, um mir selbst einen zu sichern. Er meint, ich würde dadurch gegen meinen Gegner im Nachteil sein.«

Während ich sonst absichtlich vermieden hatte, den Pfarrer als die treibende Kraft meiner Anträge hinzustellen, da sich dieselben lediglich auf weltliche Dinge, auf den Gang meiner Strafsache bezogen, so hielt ich es in diesem Falle für ratsamer, die Zurückhaltung fallen zu lassen. Standen sich doch, wie ich aus meinen Gesprächen mit dem Geistlichen wußte, die beiden nach Beruf und Wesen so grundverschiedenen Männer in ihren Anschauungen sehr nahe. So konnte mir die Erwähnung nur von Nutzen sein.

Ich hatte mich nicht getäuscht. Der Staatsanwalt nahm meine Mitteilungen und Wünsche durchaus nicht unfreundlich auf. Dennoch war er vollständig anderer Ansicht.

»Ich würde natürlich Ihren Wunsch befürworten,« sagte er. »Und ich zweifle nicht, daß das Gericht Ihnen einen Verteidiger stellt. Aber ich kann Ihnen nicht dazu raten. Das Gericht will natürlich keine so hohen Kosten aufwenden. So nimmt man[209] entweder ganz junge, ungeschulte Anwälte, in den meisten Fällen aber junge Referendare des Landgerichts, die beiweitem billiger sind als ein Rechtsanwalt. Ein solcher aber kann sich nicht so eingehend, so gründlich in Ihren Fall einarbeiten. Sie kennen Ihre Sache selbst am besten. Es fehlt Ihnen weder an der nötigen Begabung, noch am Redetalent. Wenn Sie also keinen anerkannt tüchtigen, bewährten Rechtsanwalt bekommen können, dann kann ich Ihnen nur raten, verteidigen Sie sich selbst. Ein ungeschickter Verteidiger würde Ihnen mehr schaden als nützen.«

Jedenfalls war der Staatsanwalt selbst überzeugt von dem, was er sagte. In den meisten Fällen mochte er wohl auch recht haben. Es mag wohl häufig genug vorkommen, daß sich die als Verteidiger bestellten Referendare ihre Sache ziemlich leicht machen, den Angeklagten ganz schablonenmäßig verteidigen, ihm wenig oder nichts nützen, vielleicht zuweilen sogar schaden. Doch gibt es dagegen ganz sicher auch viele Fälle, wo begabte und strebsame junge Leute mehr und erfolgreicher als mancher Anwalt bemüht sind, ihrem Mandanten zu nützen, ihm eventuell zu seinem Rechte zu verhelfen.

So war auch der mir später in meiner Meineidsverleitungssache vom Gericht als Verteidiger bestellte Landgerichtsreferendar ein hochintelligenter junger[210] Mann. Sein von seltenem Rednertalent zeugendes Plaidoyer bewies, daß er nicht nur meine Akten sehr eingehend durchstudiert, sondern sich auch mit Fleiß und Verständnis in den besonderen Fall vertieft hatte. Darum konnte er bei meiner Verteidigung, ohne die Tat selbst irgendwie zu entschuldigen, doch mit großem Geschick die keineswegs unlauteren Motive, sowie die völlige Selbstlosigkeit vor Augen führen, die mich bei meiner Handlungsweise geleitet.

Es ist meine feste Überzeugung, daß mir dieser ausgezeichnete Verteidiger sehr viel genützt hat, daß mein trauriges Geschick ohne ihn einen noch weit unglücklicheren Verlauf genommen haben würde. –

Zunächst war es jedoch noch nicht so weit. Vielmehr hatte ich nach der mir vom Staatsanwalt gewährten Audienz selbst die Überzeugung gewonnen, daß es besser sei, auf einen vom Gericht gestellten Verteidiger zu verzichten und mich selbst zu verteidigen.

Ich hatte mich zu diesem Zweck nochmals vormelden lassen und um Erlaubnis gebeten, einstweilen statt meiner literarischen Beschäftigung mir eine richtige Verteidigung wirksam ausarbeiten zu dürfen. Das war mir nicht nur bereitwilligst gewährt, sondern auch zugesichert worden, daß mir in ausgiebigster Weise Gelegenheit zur Selbstverteidigung gegeben werden würde.[211]

Inzwischen begann der Urlaub des Pfarrers. Während seiner Abwesenheit geschah die bereits erwähnte Zusammenlegung, wodurch nicht nur meine literarische Tätigkeit, sondern auch das Fortschreiten meines Verteidigungsentwurfes ganz erheblich beeinträchtigt wurde.

Das Mitleid mit der unglücklichen Zellengenossin ließ mich meines eigenen Leides soweit vergessen, daß ich mich von da ab mehr mit ihren, statt mit meinen eigenen Angelegenheiten befaßte, umsomehr als meine Strafsache, deren Verhandlung zuvor in allernächster Zeit bevorzustehen schien, jetzt der beginnenden Gerichtsferien wegen hinausgeschoben und einstweilen zum Stillstand gebracht worden war.

Als der Geistliche von seiner Urlaubsreise zurückkehrte, wollte er, wie schon erwähnt, mich von der aufgezwungenen Genossin wieder befreien, was ich jedoch nicht mehr wünschte. Trotz dieser meiner Weigerung kam er anfangs noch öfters in unsere Zelle, interessierte sich für das Fortschreiten meiner literarischen Arbeit, mahnte mich aber auch, sowohl diese als die Vorbereitung meiner Selbstverteidigung wieder eifriger als in der jüngsten Zeit zu fördern. Er wies uns gute Bücher zu, wie er sie für jede von uns angemessen hielt, sprach auch zuweilen eingehend mit meiner Zellengenossin, doch schien es mir, als hege er für die unglückliche junge Frau nicht das[212] gleiche fürsorgliche Interesse, nicht die nämliche mild verständnisvolle Teilnahme; als beurteile – um nicht zu sagen verurteile er sie und ihre Verfehlung weit strenger, als dies mir gegenüber der Fall, als es überhaupt sonst seine Art war.

Diese Wahrnehmung, die der armen Leidenden nicht entgangen war, und die bei ihrer sensitiven Gemütsverfassung stets langandauernde, tränenreiche Verstimmung hervorrief, machte mich ungerecht gegen den gütigen Gönner, ließ mich seine wohlgemeinte Fürsorge für einen guten Ausgang meiner Strafsache geringer anschlagen, und selbst seine Besuche mir weniger erwünscht erscheinen.

Der Menschenfreund schien mir hier ungerecht, vielleicht beeinflußt in seinem Urteil durch die Aufseherinnen, die allerdings in der Mehrzahl meiner Zellengenossin nicht wohlgesinnt waren.

Und doch war es vielleicht nur seine aufrichtige Fürsorge für mein Geschick, die tiefere Erkenntnis dessen, wie sehr ich mir selbst durch mein allzuweitgehendes Interesse für das Schicksal einer Mitgefangenen schade und mein eigenes verschlimmere, was ihn scheinbar zur Parteilichkeit veranlaßte. Vielleicht bewährte sich auch hier in dem jungen Geistlichen der scharfsinnige Psychologe.

Trotzalledem hat mir der Hochherzige sein Wohlwollen, sein teilnehmendes Interesse niemals gänzlich[213] entzogen. Er hat im Gegenteil selbst dann noch für mich zu wirken versucht, als mir nach Entdeckung meiner unbefugten Einmischung nicht nur die literarische Selbstbeschäftigung, sondern auch die Möglichkeit zur Selbstverteidigung entzogen worden war. –

Eines Tages wurde ich in die Kanzlei der ersten Strafkammer beschieden und mir eröffnet, daß mir vom Gericht in einem jungen angehenden Rechtsanwalt ein Verteidiger bestellt sei.

So war denn die Frage der Verteidigung für mich entschieden, und zwar anscheinend zu meinen Gunsten.

Quelle:
Hoff, Marie: Neun Monate in Untersuchungshaft. Erlebnisse und Erfahrungen, Dresden, Leipzig 1909, S. 203-214.
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