Meine zweite Verhandlung.

[219] Wie sehr ich mir durch meine unbefugte Einmischung in die Strafsache meiner Zellengenossin,[219] durch mein aus tiefem Mitleid mit ihrem Unglück, ihrem leidenden Zustande hervorgegangenes Eintreten für sie meine Position selbst den Aufsichtsbeamtinnen gegenüber erschwert hatte, wie man trotz meines offensichtlich leidenden Zustandes immer geneigt war, an eine Täuschung meinerseits zu glauben, das möge ein Vorkommnis beweisen von dem Tage, an welchem ursprünglich meine zweite Verhandlung anberaumt war.

Als an dem betreffenden Maimorgen die Aufseherin meine Zelle öffnete, fand sie mich noch auf dem Lager.

»Nun, was ist denn das? Sie sind noch gar nicht aufgestanden und haben doch heute um 9 Uhr Verhandlung?« meinte sie in ziemlich scharfem Tone.

»Ich fühle mich sehr elend, Frau Aufseherin,« entgegnete ich. »Die ganze Nacht habe ich schlaflos in Schmerzen verbracht. Wer weiß, ob ich heute überhaupt verhandlungsfähig sein werde.«

»Ach natürlich, das wird schon wieder besser. Bleiben Sie jetzt noch ein bißchen liegen. Ich bringe Ihnen ein paar Tropfen.«

Damit ging sie, um bald darauf mit der versprochenen Medizin zurückzukehren.

Aber obgleich sie mir dieselbe zweimal verabreichte, stellte sich keine Besserung ein. Als die Aufseherin[220] abermals wiederkam, folgte ihr die Oberaufseherin auf dem Fuße.

»Stehen Sie auf! – rasch! –« befahl diese streng. »Es ist die höchste Zeit. Sie werden bald zur Verhandlung abgeholt werden.«

»Ich kann nicht aufstehen, Frau Oberaufseherin. Es ist unmöglich. Die Schmerzen sind zu arg,« stöhnte ich.

»Unsinn!« fiel sie mir ins Wort. »Geben Sie ihr jetzt noch ein paar Tropfen,« wandte sie sich an die Aufseherin. Dann wieder zu mir: »Sie stehen jetzt auf und ziehen sich an. Ich bin gleich wieder da.«

Als sie mich noch immer liegend fand, brauste sie auf.

»Was fällt Ihnen denn eigentlich ein?! –« fuhr sie mich an. »Die Zeit rückt heran, wo Sie geholt werden, und Sie bleiben ruhig liegen. Denken Sie denn, das Gericht soll auf Sie warten?«

»Ich kann nicht, Frau Oberaufseherin!« stöhnte ich, mich in Schmerzen windend. »Die Verhandlung muß vertagt werden.«

»Jawohl! – Das fehlte noch! Ihretwegen wird man die Verhandlung vertagen!«

»Das geschieht doch öfter. – Ich kann doch heute keiner Verhandlung folgen. Ich bin ja keines klaren Gedankens fähig.«[221]

»Ach, so schlimm wird es nicht sein. Wenn Sie sich ein bißchen zusammennehmen, dann geht es schon. Sie wollen bloß nicht.«

»Dann bitte rufen Sie doch den Herrn Medizinalrat, wenn Sie mir nicht glauben,« bat ich.

Aber ich fand kein Erbarmen bei der erbitterten Oberbeamtin.

»Da rufen wir wohl erst den Arzt,« meinte sie wegwerfend. »Hinein zur Verhandlung müssen Sie unbedingt.«

»Wenn ich aber nicht gehen kann –«

»Sie werden schon können. Wenn Sie es auf die Spitze treiben, dann lasse ich Sie hineintragen.«

Auf der Vorgesetzten Geheiß brachte die Aufseherin einen Kamm herbei und begann meine Toilette herzustellen. Ich ließ alles mit mir geschehen, vor Schmerzen beinahe sinnlos.

Als sie mich mit großer Mühe angekleidet hatte, weil ich fortwährend zusammenknickte, kamen tatsächlich zwei Aufseher der Männerabteilung, setzten mich in einen Stuhl und trugen mich so wie in einer Sänfte in den Verhandlungssaal. Ich hing halb ohnmächtig in der improvisierten Tragbahre, hörte aber dennoch beim Passieren des einen Treppenganges eine Stimme aus dem dort versammelten Publikum fragen:

»Was ist denn mit der[222]

»'neingetragen wird sie. Die verstellt sich doch bloß,« antwortete einer der Aufseher dem neugierigen Frager.

So schleppten sie mich über Treppen und Gänge des Landgerichts in den Verhandlungssaal hinein und setzten mich auf die Anklagebank. Ich sah das Ganze nur noch wie durch einen Nebel und merkte kaum, wie meine Mitangeklagten neben mir Platz nahmen. Im Saale schwirrte alles durcheinander. Ich hörte nur wie von fernher ein murmelndes Geräusch.

Endlich wandte sich der Präsident an mich. Was er aber sagte, hallte nur undeutlich an meinem Ohr vorüber. Dann wurde der Arzt herbeigeholt. Die Männer luden mich wieder auf und trugen mich denselben Weg wieder zurück nach meiner Zelle, wo sie mich auf das Feldbett legten.

Der Arzt kam und verordnete mir stärkenden Wein, Medizin und ganz leichte Kost.

Die Verhandlung mußte nun doch vertagt werden. Sie hat dann erst am 5. Juni stattgefunden.

Es ist meine feste Ueberzeugung, daß die zwar energische, aber dabei stets äußerst humane Oberaufseherin bei dieser ganzen für mich höchst peinlichen Szene in dem guten Glauben gehandelt hat, ihre Pflicht zu erfüllen, indem sie eine Simulantin verhinderte, das Gericht zu schikanieren. Hätte sie[223] dies nicht so fest geglaubt, dann hätte sie durch Hinzuziehen des erbetenen Arztes auch ohne Gewaltmaßregeln ihrer Pflicht genügen und sich aller Verantwortung entziehen können. – –

Endlich war der 5. Juni herangekommen.

Der Gerichtsdiener holte mich ab und führte mich zunächst in einen Warteraum im Landgericht selbst, in welchem ich eingeschlossen und erst kurz vor Beginn der Verhandlung wieder hinaus und auf Seitengängen in den Saal geführt wurde. Dies geschieht des sich in den Hauptgängen ansammelnden Publikums wegen, durch welches sonst der Gefangene förmlich Spießruten laufen müßte.

Schon lange vor meiner Rücklieferung in das Untersuchungsgefängnis zu D. war mir nach dem Landesgefängnis mitgeteilt worden, daß mir in dem Landgerichtsreferendar H. vom Gericht ein Verteidiger in meiner Meineidsverleitungssache gestellt worden sei. Der hohen Intelligenz dieses meines jungen Verteidigers hatte ich es hauptsächlich zu danken, daß mich in meiner zweiten Verhandlung der Spruch des Gerichts nicht noch härter und vernichtender traf, als es ohnehin schon geschehen. Hatte ich doch durch mein, obschon selbstloses, so doch im höchsten Grade unkluges und törichtes Verhalten alles getan, mein Schicksal zu verschlimmern, sodaß auch hier mehr auf mein Schuldkonto kam, als eigentlich darauf gehörte.[224]

Die Beweisführung war vorüber. Auch mein Verteidiger hatte bereits sein Plaidoyer beendet, das mit zündender Beredsamkeit alle die Momente hervorhob, die zu meiner Entlastung dienen konnten. Ebenso waren die Rechtsanwälte meiner beiden Mitangeklagten zu Worte gekommen. Darauf sprach der Staatsanwalt, ein anderer als in meiner ersten Sache. Er beantragte für mich Zuchthausstrafe, für meine beiden Mitangeklagten eine entsprechende Ahndung.

Der Gerichtshof zog sich zur Beratung zurück. Es entstand eine kurze Pause. Nach Wiedereintritt der Gerichtsherren verkündete der Vorsitzende den Urteilsspruch. Er lautete für mich unter Aufhebung des Urteils vom Vorjahre auf eine Gesamtstrafe von 3 Jahren Zuchthaus. Meine Mitangeklagten wurden freigesprochen.

So sehr ich über diesen Freispruch erfreut war, so sehr ich mich bemüht hatte, auf alle Weise selbst zu meinem eigenen Schaden zur Entlastung der Beiden beizutragen, von denen die eine Familienmutter in glücklichen Verhältnissen, die andere eine Witwe war, die für ein schulpflichtiges Kind zu sorgen hatte, so konnte mich das mir bevorstehende Schicksal, der Spruch des Gerichts kaum allzusehr niederschmettern. Hielt ich doch an der Überzeugung fest, daß ich meinen Todesgang gehe, daß ich bei meinem durch den Schlaganfall[225] inzwischen schwer gestörten Gesundheitszustande aus dem Zuchthause zu X., das mich aufzunehmen bestimmt war, nie mehr ins Leben, in die Welt der Freiheit zurückkehren werde.[226]

Quelle:
Hoff, Marie: Neun Monate in Untersuchungshaft. Erlebnisse und Erfahrungen, Dresden, Leipzig 1909, S. 219-227.
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