XVIII.

[146] »Des Lebens ungemischte Freude ward keinem Sterblichen zu teil!«

Werther wurde ein anderer gegen mich – ich habe nie erfahren warum. Werther selbst fiel gar bald in Ungnade, so daß man jeden Augenblick seinen Rücktritt erwartete – aber Herr von Werther ist ein außerordentlich kluger Mann, er hielt sich. Man setzte ihm die Hofkammer wieder, wie es bei seinem Vorgänger war, als über ihm stehende Behörde ein, seine Machtvollkommenheit war gelähmt, aber er blieb im Amte.

Kathi Frank, die er mit 14000 Mark Gehalt für je 7 Monate während zweier Saisons angestellt, verschwand wieder nach zwei Jahren, obwohl Werther das ganze Repertoir auf ihre Schultern gelegt hatte. Die Hofkammer kann sich nun einmal nicht entschließen, für Künstler dauernd große Gagen zu zahlen, wie andere namhafte Bühnen es zu thun genötigt sind. Ich muß ehrlich sagen, wenn ich Hofkammerpräsident in Stuttgart wäre, ich thäte es auch nicht, denn es lohnt sich nicht in Stuttgart. Dem Neuen – auch dem Unbedeutenden – jubelt das Publikum zu, solange es gesperrt gedruckt auf dem Theaterzettel steht, figuriert der Name aber einmal bescheiden in der Rubrik der übrigen, so bleibt das Stuttgarter Publikum empfindungslos. Das Neue hat nur Reiz!

Ich will nicht behaupten, daß Stuttgart dem bei ihm lange weilenden Künstler mit der Zeit seine Sympathien entzieht. Stuttgart hängt an seinen Lieblingen, und wenn der Anlaß einmal da ist, zeigt es auch, was es vermag; aber der[147] eigentliche Rapport, der zwischen dem Künstler und seinem Publikum immer bestehen muß, will der erstere Bedeutendes schaffen, – der fehlt. Wie oft haben wir unser Bestes gegeben und Totenstille im Hause war unser Lohn. Diese stumme Anerkennung entzieht dem Publikum das Beste. Was wir geben, geben wir in der Begeisterung, in der Erregung. Wüßte das Publikum, wie es dem Schauspieler die Lust, die Begeisterung, den Humor entzieht, wenn es guten Leistungen kalt gegenüber sitzt, es würde sich den Genuß nicht oft selbst durch Kälte verkümmern. Wir haben ja keinen anderen Barometer, an dem wir den Grad des Gefallens ermessen können, als den Applaus des Publikums, denn die Claque erfreut uns nicht. Ein vernünftiger Schauspieler schämt sich der Claque, ja er schreckt das Publikum ab, wenn er sich derselben bedient, wenigstens ist es in Stuttgart so.

In Wien ist das Claquenwesen außerordentlich ausgebildet, und so mags dort auch einen Sinn bei Premieren u. dgl. haben. Der Chef der Claque macht dort die Proben mit, merkt sich die Stichwörter und die Stellen, wo er seine Arbeit beginnen kann, verteilt dann abends mit Geschick in den verschiedenen Rängen seine Leute und dirigiert von einem Platze aus, wo er von allen Gehilfen gesehen wird, durch bloße Zeichen, nicht durch persönliche Handarbeit. In Wien sind diese Chefs anscheinend seine Leute, sie geben ungeniert ihre Karten ab mit dem Epitethon: Chef der Claque! Die Leute stehen sich dort recht gut, sie beziehen ein regelmäßiges Einkommen von den Bühnenmitgliedern.

Auch in Stuttgart ist so ein Claqueur, aber er ist alles in einer Person: Chef und ausübender Künstler. Jedermann erkennt ihn, und fängt er, meist zur unrechten Zeit, zu applaudieren an, so sieht alles in die dritte Galerie hinauf, wo seine Werkstatt ist, aber jeder Stuttgarter schämt sich mit einzustimmen. Der Mann lebt dürftig von seinem Gewerbe, sehr dürftig, aber er lebt.

Der Schauspieler ist einmal so und glaubt, er brauche[148] den Applaus zum Imponieren bei seinem Chef oder zur Erlangung besserer Kontraktsbedingungen. Armer Stuttgarter Chef der Claque, du hast noch niemandem Vorteile geschaffen, im Gegenteil, du machst deine Klienten, wie du sie nennst, lächerlich, indem du die Aufmerksamkeit des Publikums auf dich ziehst! Stuttgart applaudiert selten, aber wenn es herzlich gemeint ist, so hört man es heraus und es klingt dann überzeugender, als deine alten, kraftlosen Hände es je auszudrücken vermögen. Der alte Mann hat mir immer leid gethan, daß er seine Thätigkeit so viele lange Jahre dem Stuttgarter Hoftheater gewidmet hat. Er hat die im ewigen Kreislaufe sich wiederholenden Stücke so oft gesehen, daß er in der Vorstellung meistens einschläft, dann den richtigen Moment verpaßt, und erst durch den Applaus des Publikums zu seiner Thätigkeit aufgeweckt wird. – –

Oft schwebte ein Unstern über den Vorstellungen im Stuttgarter Hoftheater.

»Die große Glocke« von Blumenthal wurde gegeben. Kollege Kaufmann steht auf der Scene. Frau Stefan mußte auftreten, hatte aber diese Scene vergessen und war in die Garderobe gegangen, sich zum folgenden Akt umzukleiden. Nachdem Kaufmann das Stichwort für Frau Stefan gebracht, diese aber nicht auftrat und bereits eine längere Pause im Dialog entstanden war, extemporiert Kaufmann in einem fort: »Sie kommt – ich höre sie schon – ja, ja, sie ist's – sie muß kommen – da ist sie – ja sie kommt, jetzt kommt sie!« Frau Stefan kam aber doch nicht, und nachdem der sehnsüchtig harrende Kaufmann sich mit allen Variationen über »sie kommt, sie kommt« ausextemporiert hatte, und Frau Stefan immer noch nicht kommt, geht er, betrübt und verzweiflungsvoll zwischen den Scenen murmelnd: »sie kommt doch nicht,« ab. Der Vorhang senkt sich auch verzweiflungsvoll herab und das Publikum fängt über den eigentümlichen Aktschluß, den Blumenthal übrigens nicht wirksamer hätte schreiben können, herzlich zu lachen an.[149]

Der Geh. Hofrat von Werther stürzt auf die Bühne: »Herr Richter, was ist das für eine Wirtschaft?« Der Scenerieinspektor Richter steht händeringend vor der Garderobenthür der Frau Stefan und ruft dem Intendanten entgegen: »Sie hat sich zu früh umgezogen!« Frau Stefan ruft aus ihrer Garderobe im jammernden Tone: »Niemand herein, ich kleide mich um!« Frau Stefan bekommt den Weinkrampf, das Publikum draußen lacht immer noch und harrt der Dinge, die da kommen sollen. Richter tritt endlich im Frack, den er für alle Eventualitäten immer bei sich haben muß, vor den Vorhang und annonciert: »Ich habe die Ehre dem Publikum anzuzeigen, daß Frau Stefan von plötzlichem Unwohlsein befallen ist, sie wird aber, nachdem sie sich erholt, ihre Partie doch noch zu Ende spielen und bittet nur um gütige Nachsicht.« Der Vorhang geht wieder in die Höhe, Frau Stefan tritt ganz consterniert, in der Hast und Kopflosigkeit mit einem schwarzen und einem weißen Schuh bekleidet, die Taille nur halb zugeschnürt, auf, und spielt mit dem heftigsten fingierten Unwohlsein unter lebhaftem Bedauern des Publikums ihre Partie zu Ende.

Nach solchen Vorkommnissen versendet die Hoftheaterkanzlei andern Tags ihre ominösen roten Strafbriefe – auch Frau Stefan erhielt für ihre fingierte Krankheit diesen Liebesbrief im roten intendanzlichen Couvert! –

»Der letzte Brief« wurde gegeben zu einer Zeit, wo das Stuttgarter Hoftheater unter seinen Mitgliedern viele Doktoren zählte. Da war Dr. Löwe, Dr. Herzfeld, Dr. Kaser, Dr. Pockh und andere. Der Scenerieinspektor Richter ist ein sehr höflicher Mann und redet, wem's zukommt, stets »Herr Doktor« an. Es entsteht eine Pause in der Aufführung des »letzten Brief«.

»Herr Doktor Sie kommen, Herr Doktor Sie kommen!« ruft Richter.

Ja, welcher Doktor kam nun?

Dr. Herzfeld stand an der Mittelthür, Wentzel als Doktor[150] im Stück neben ihm, Dr. Kaser war in der Garderobe. Nachdem niemand Miene machte heraus zu gehen, tritt Wentzel im Glauben, der Ruf: »Herr Doktor Sie kommen« hätte ihm gegolten, auf, den Hut in der Hand. Als Frau Rosenberg, die Souffleuse, ihn sieht, winkt sie aus Leibeskräften aus dem Souffleurkasten, er solle abgehen. Wentzel bemerkt es nicht, und da ihm die Souffleuse nicht anschlägt, weiß er nicht was er thun noch reden soll, und ruft endlich verzweiflungsvoll: »Ja wird denn heute nicht gesp–ei–st?« und dehnt die letzte Silbe seines extemporierten Satzes ins Unendliche, als müsse sich unterdessen was ereignen, was ihn aus der peinlichen Situation ziehen sollte. »Abgehen, abgehen,« ruft ihm die Souffleuse zu, »gehen Sie doch weg, Sie kommen ja gar nicht!« Und als nun niemand Wentzel die Frage beantwortet, ob heute nicht gespeist wird, setzt er gravitätisch den Hut auf, macht auf dem Absatz Kehrt, und geht mit den Worten: »Na dann geh ich wieder,« unter herzlichem Gelächter des Publikums ab. Mittlerweile war Herr Heuberger, ein alter Kollege, der rettend auf den Ruf des Inspizienten eingreifen wollte, in die Garderobe des Dr. Kaser gestürzt: »Herr Doktor, Sie kommen, Herr Doktor, Sie kommen.« Kaser steht in Unterbeinkleidern, im Umziehen begriffen, da, und glaubt, er habe seine Szene versäumt. »Um Gotteswillen, einen langen Rock, eine Mönchskutte, eine Mönchskutte!« ruft er. Die Garderobiers stürzen zu allen Thüren hinaus und wollen das verlangte, rettende Kleidungsstück herbeischaffen; endlich findet einer derselben eine Mönchskutte und wirft sie Dr. Kaser über den Kopf; sie ist aber zu kurz, die Unterbeinkleider sind immer noch sichtbar. Kaser stürzt mit geknickten Beinen, damit die Mönchskutte den Boden erreicht, über den Korridor der Bühne zu und will in diesem Ko stüm auftreten. Richter fällt ihm um den Hals, um ihn am Auftreten zu verhindern. Zum Glück hatte der Akt mittlerweile sein Ende gefunden, und der Vorhang bedeckte die Szene. Dr. Kaser war gar nicht erforderlich gewesen, Dr. Herzfeldwar der vom Inspizienten so heiß ersehnte Doktor. Am andern Tage bekam Herzfeld seinen roten Brief. – –

Bei einer Aufführung von »Kabale und Liebe« meldet ein Dienerstatt: »Mamsell Millerin« den »Hofmarschall von Kalb« an. »Lady Milford« konnte daraufhin nun nicht wohl sagen: »Die Mamsell mag eintreten«. Als der Chorist seine falsche Meldung abgegeben, sieht ihn Lady Milford (Frau Wahlmann) verdrießlich an, und flüstert ihm leise zu: »Mamsell Millerin!« Der Chorist bleibt stumm, die Kammerzofe souffliert ihm ebenfalls: »Mamsell Millerin«. Der Chorist glaubt sich aber im Recht und wird verdrießlich, daß er nicht abgeschickt wird und ruft nochmals laut und wütend: »Der Herr Hofmarschall von Kalb«. Frau Wahlmann weiß sich nicht mehr zu helfen, und mit einer ihr eigenen heroischen Armbewegung sagt sie gleichfalls ganz wütend: »Nun, so laß die Mamsell eintreten«, und Fräulein Kathi Frank wurde als Louise mit demselben Gelächter empfangen, als wenn der Hofmarschall von Kalb aufgetreten wäre. Später hat der Diener den Hofmarschall wirklich zu melden, und als dies geschah, steigerte sich, im Glauben es kommt noch eine Mamsell die Heiterkeit des Publikums noch mehr, und ich glaube Kollege Kaser ist nie mit schallenderem Gelächter empfangen worden als an diesem Abend, als »Mamsell Hofmarschall von Kalb!« –

Unter Werther wurde auch »Robert und Bertram« wiederholt. Es ist bekannt, daß am Schluß des zweiten Akts die lustigen Vagabunden auf den Pferden der beiden Gensdarmen hoch zu Roß entfliehen. Nun sollte aber bald darauf »Rienzi« mit prachtvoller Ausstattung in Scene gehen. Herr von Werther, der sich für die Oper interessierte, wie für alles, was im großen Stil angelegt war, wollte nicht, daß wir dem Volkstribun, der bekanntlich auch zu Pferde erscheint, diesen famosen Effekt vorher schädigen sollten. Es wurde beschlossen, daß wir auf den Schultern einiger handfesten Theaterarbeiter rittlings sitzen sollten, denn da wir hinter einer Mauer ritten, konnte das Publikum, dem man ja so oft ein X für ein U[153] vormacht, zur Not getäuscht werden. Aber Herr von Werther denkt – und das Schicksal lenkt! Die perfide Mauer stürzt gerade in dem verhängnisvollsten Moment, als wir vorbei ritten, um, und das Publikum sieht uns, statt auf hohen Rossen, ganz vergnügt auf den Theaterarbeitern sitzen. Kein Mensch soll mehr gelacht haben, als – Herr von Werther. So exakt und streng er war, wenn er sich für eine Vorstellung interessierte, so wenig entrüstet war er, je mehr drunter und drüber es ging, wenn ihn eine Vorstellung nicht interessierte.

Ich habe mich nie um Werthers Vorgeschichte und die zahllosen Klatschereien, die über ihn kursierten, gekümmert. Seine Vorliebe für gewisse Personen will ich auch nicht erörtern; aber welche Lust, welchen Eifer, hätte er in uns bei seinen bedeutenden Fähigkeiten entzünden können, wenn er nicht so schnell erlahmt wäre und alles hätte gehen lassen wie es Gott und seinen Regisseuren gefiel. Vielleicht hing letzteres mit der Ungnade,[154] die ihn damals von oben herab traf, zusammen. Gerade von Werther hatte ich für mich so viel erwartet, und meine letzte Hoffnung auf ein Besserwerden am Stuttgarter Hoftheater schwand mit ihm! –

Also Werther fiel in Ungnade, und auffallend war es mir, von der Zeit an stellte er auch mich kalt, ließ fremde Komiker, wie Girardi und Schweighofer, kommen und suchte mich dem Publikum zu entfremden. Ich bin mir heute noch nicht klar darüber, ob er Weisung von oben dazu hatte, oder ob er aus eigener Initiative zu meiner Kaltstellung griff.

Das anonyme Briefschreiben ist ein Kultus, der mit zäher Ausdauer, so lange ich denken kann, am Stuttgarter Hoftheater betrieben wird. Werther hat manchen anonymen Brief, der den Zweck hatte, mich zu stürzen, bekommen – aber das hatte ihn, der so reich in diesen Erfahrungen ist, wohl nicht verstimmt, dazu war er zu bewandert, zu vernünftig; er zeigte mir oft lachend so ein anonymes Opus – aber ob nicht in die maßgebenden Beamtenkreise diese anonymen Briefe gedrungen sind und dort zerstörende Wirkung ausgeübt haben, das weiß ich nicht, ich hörte nur zufällig manchmal von dem Vorhandensein dieser Briefe. – – –

Quelle:
Junkermann, August: Memoiren eines Hofschauspielers. Stuttgart [1888]., S. 146-155.
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