II.

[15] Bald darauf wurde ich nach Wesel versetzt. Die Abteilung dort kommandierte der alte Major v. Derschau, einer jener braven Offiziere, die sich durch Humanität die Liebe ihrer Untergebenen in einem Maße erwerben, daß jeder sein Leben freudig für sie läßt. Im Dienste war der Major streng und unnachsichtlich, aber außer Dienst ein Vater seinen Kindern, seinen Soldaten. Es entstand in seiner Abteilung ein Männergesangverein, der alte Herr liebte Gesang über alles. Ich konnte mit einigen musikalischen Fähigkeiten aufwarten, ich übte mich in der Kaserne oft auf meiner Geige und anderen Instrumenten, denn mein Vater hatte mit aller Strenge darauf gehalten, daß wir Musik schon als Kinder trieben. Der alte Major v. Derschau hatte mich in der Kaserne geigen hören und veranlaßte mich infolgedessen die Leitung des Männergesangvereins zu übernehmen, ja, er dispensierte mich dafür von manchem Dienst, und ich kann sagen, wir leisteten etwas in dem Verein. Die erste musikalische Aufführung war ein Ständchen, das wir dem alten Major brachten. Ich sehe ihn heute noch, wie der alte Herr aus der Thür trat, zitternd vor Freude sich den weißen Schnurrbart drehend, als er »den Tag des Herrn«, die erste That aller Gesangvereine, von uns Söhnen des Mars vortragen hörte.

Das »Bild der Rose« mit Brummstimmen hatten wir einstudiert; wir besaßen für das Solo keinen Tenor als mich, und ich hatte kaum die Stimmlage eines Baritonisten; aber mächtige Bässe hatten wir, die das Transponieren nach der[16] Tiefe hin gar nicht genierte – es war ein schreckliches Gebrumme, »ein Lied, das Stein erweichen, Menschen rasend machen kann,« aber der alte Major war entzückt davon. Er ließ uns alle näher treten und bewirtete uns mit Speise und Trank. Unser Repertoir wurde abgesungen und ich mußte schließlich zu Solovorträgen greifen, die ich damals schon kultivierte. Der Major hatte seine helle Freude daran, und meinte: »Mensch, Sie sind ja ein wahrer Künstler, Sie müssen zum Theater gehen, Soldat werden Sie doch nie!«

Wir machten mit unseren Gesangsproduktionen immer größere Fortschritte, so daß wir uns bald öffentlich konnten hören lassen.

Eine Theatertruppe kam nach Wesel. Der Direktor war der in der Theaterwelt damals sehr bekannte Obstfelder, der in Gemeinschaft mit seinem Schwiegersohne Käuneke das Theater in Wesel leitete. Wir machten die Bekanntschaft der Sänger und Schauspieler, und es dauerte auch nicht lange, so standen wir auf der Bühne als Chorsänger in der Oper. Zuerst machten wir in »Figaros Hochzeit« mit. Das war leicht, da die Oper ja nur einen Chor enthält. Allein der Sänger Albes versprach sich durch unsere Mitwirkung eine gute Benefizeinnahme, und bat uns, die Chöre zu »Templer und Jüdin« einzustudieren. Wir machten uns dran, und ich mußte sogar den »Richard Löwenherz« übernehmen, der einige Takte zu singen, das andere aber zu sprechen hat. Ich hatte solche Angst vor meinen drei Takten unter meinem Harnisch, daß ich bei der Aufführung meinen Einsatz verfehlte, und der Kapellmeister am Pulte für mich freundlichst diese drei Takte sang. Aber die Artillerie-Unteroffiziere und Feuerwerker hatten großen Erfolg gehabt. Das Haus war voll und die ganze Stadt sprach tagelang von den vorzüglichen Chören, um welche jedes Hoftheater fortan Wesel beneidete.

Die Herren Chargierten der Artillerie hatten Blut geleckt, der alte Major v. Derschau hatte sich sehr günstig über die Leistungen in der Oper gegen sein Unteroffiziere ausgesprochen und der Künstlerehrgeiz fuhr in die braven Artilleristen.[17]

Die wandernde Theatertruppe verließ Wesel, der Winter war noch lange nicht zu Ende, und man beschloß in unserer Batterie ein Liebhabertheater zu gründen. Intelligente Feuerwerker standen uns hilfreich zur Seite und es währte nicht lange, da hatten wir unsere regelmäßigen Theateraufführungen. »Humoristische Studien«, »Der Sohn auf Reisen«, »Das bemooste Haupt« waren unsere Hauptstücke. Mit dem Kalinsky, dem Peter und dem Strobel machte ich ganz besonderes Aussehen. Die Damenrollen waren alle von kräftigen Artilleristen besetzt. Wir machten an das Talent zur Darstellung von Damenrollen keine anderen Ansprüche, als daß die Liebhaberinnen wenigstens keinen Schnurr- und Backenbart haben durften. Der Feuerwerker Köster und der Bombardier Rauch (jetzt Zeughauptmann a.D. in Breslau) waren bartlos oder doch so zart bebartet, daß dieser störende Schmuck für Frauengesichter bei der mangelhaften Oelbeleuchtung abends nicht sichtbar war. In komischen Stücken machten uns die Frauenrollen, von kräftigen Männern dargestellt, nicht viel Kummer und Kopfzerbrechen. Es war damals beim schönen Geschlecht eine so günstige Hut- und Schleiermode für diesen Zweck, daß wir das wettergebräunte Kriegerantlitz ganz bequem darunter verstecken konnten. Operngucker hatte unser Publikum nicht, und zur Vorsicht ordnete ich an, daß Hut und Schleier von den Darstellern niemals abgenommen werden durften.

In Wesel lebte damals der Oberstabsarzt Deetz, der mir viel von seinem Sohne erzählte, welcher eben zum Theater gegangen war und in Karlsruhe auf der Hofbühne bedeutende Lorbeeren erntete. Der Herr Oberstabsarzt meinte, ich müßte auch Karriere auf der Bühne machen, es könnte mir nicht fehlen.

Dieser Ausspruch reifte den heimlich schon gefaßten Entschluß in mir, ich müsse Schauspieler werden.

Unsere Batterie wurde bald darauf nach Münster versetzt.

Auch dort wurde Theater gespielt! Wir zogen aus bürgerlichen Kreisen Talente an uns und wagten uns an größere Aufgaben in der dramatischen Kunst. Meine Kameraden hatten die Theaterdirektion in Münster auf mich aufmerksam[18] gemacht, und ich trat denn auch bald öffentlich im Stadttheater zu Münster auf. Der dort engagierte Bassist Graf forderte mich auf, bei seinem Benefiz mitzuwirken. Es geschah. Ich spielte den »Kurmärker«. Die kräftigen Hände meiner Artillerie-Kameraden belohnten mich mit frenetischem Applaus und ließen eine andere Ansicht seitens der übrigen Theaterbesucher gar nicht aufkommen, wiewohl ich am andern Tage hörte, daß im münsterschen Publikum sich verschiedene Ansichten über meine Leistung geltend gemacht hatten. Den schlagendsten Beweis des Nichtgefallens erhielt ich aber erst am andern Tage auf der Parole durch meinen Hauptmann.

Der Herr Hauptmann Credner besuchte öfters das Theater, er mußte demnach ein Verehrer der Kunst sein; er war auch am gestrigen Abend im Theater gewesen, und ich ging nach dem enormen Beifall, der mir durch seine ganze Batterie am Abend vorher zuteil geworden, mit dem Bewußtsein zum Apell, das jeder Schauspieler kennt, wenn er am Tage nach einer gelungenen Rolle sich öffentlich zeigt. Leider teilt das Publikum oft nicht die Empfindungen, die wir haben – so war's auch bei meinem Hauptmann.

Der Hauptmann pflegte beim Appell die Avancierten für gewöhnlich nicht der Musterung zu unterziehen, ob sie die Knöpfe gut geputzt, ob sie rein gewaschen und die Kleider ohne Flecken – aber heute ging der Herr Hauptmann auch die Front der Avancierten entlang. Er fand alles in Ordnung; als er aber zu mir kam – ich stand als der jüngste Bombardier auf dem linken Flügel – besichtigte er mich ganz besonders, ging um mich herum und musterte mich von allen Seiten. Ich wurde ganz stolz und meine Dilettantenbrust hob sich zu künstlerischer Arroganz, denn ich glaubte schließen zu können, daß der Herr Hauptmann in der Nachwirkung des gestrigen Abends noch ganz im Anblick des Künstlers versunken sei. Mit einemmale reißt mir der Hauptmann den Helm vom Kopfe, hält ihn hoch in der Luft und schreit mit Stentorstimme über den Kasernenhof, daß alles zu uns herüberblickt: »Mit dem Helme haben Sie[19] wohl Komödie gespielt!?« – Alles war stumm, aus des Hauptmanns Augen schossen Blitze, die mir deutlich sagten, daß ich ihm gestern in der Komödie gar nicht gefallen hatte, und er wiederholte seine Frage mit dem Zusatze: »Sie Schnurrant[20] – wie sieht der Helm aus – antworten Sie – haben Sie damit Komödie gespielt?«

Ich war damals gar nicht eitel in Toilette, es konnte ja sein, daß das Messingzeug nicht so geputzt war, wie es dem Herrn Hauptmann an diesem Morgen wünschenswert erschien, ich selber hatte nichts an dem Helm gefunden, was mein Auge beleidigt hätte – und so antwortete ich denn auf die wiederholten Fragen, und weil ich mich durch den Ausdruck »Schnurrant« denn doch etwas gekränkt sah, ganz stolz im Gefühle des beleidigten jungen Künstlers: »Nein, Herr Hauptmann, dazu kann ich das Ding nicht brauchen!« – Ich weiß es nicht mehr genau, was nun geschah, denn mir verging Hören und Sehen, als der Herr Hauptmann mir den Helm wieder aufsetzte, so unsanft vollzog er diese Manipulation, und immer noch schien ihm der Helm nicht richtig zu sitzen, denn ich fühlte, wie der Helm mir bald das linke, bald das rechte Ohr abzuschneiden drohte, so mächtig fiel er wiederholt auf mein Haupt nieder, das statt Lorbeeren, wie ich gehofft, nun eine Dornenkrone umwand. Mein damals noch üppiges Haar war durch die unsanfte Bearbeitung mit dem Artilleriehelme wohl in Unordnung geraten und erschien dem Herrn Hauptmann dadurch in unvorschriftsmäßiger Länge. Nach nochmaliger Umkreisung knipste er mit dem Zeigefinger auf meine Uniform, ob er keine Staubwolke hervorzaubern konnte, und als dies vergebens, kehrte er wieder zur Besichtigung meiner derangierten Haarfrisur zurück und meinte: »Sie tragen ja wohl schon eine Künstlerfrisur? – Feldwebel,« rief er, »lassen Sie dem Bombardier Junkermann mal den Polkakopf stutzen und führen sie ihn 24 Stunden in Arrest.«

Ich wurde abgeführt – fern von Madrid über mein Schicksal nachzudenken. In späteren Jahren habe ich oft Gelegenheit gehabt, über eine verunglückte Rolle zu sinnen, aber eine solche Ruhe des Nachdenkens habe ich nie wieder gefunden als in meinem Arrest. Ich ließ die Worte der Rolle des Kurmärkers 24 Stunden lang in meinem Gedächtnisse vorüberziehen,[21] und so oft ich auch die Rolle in meinem späteren Leben gespielt – ich habe sie nie wieder memorieren brauchen, der Herr Hauptmann hatte sie mir mit den 24 Stunden Arrest und mit dem Helme zu fest in meinen Kopf gedrückt. – – –

Tage, Wochen und Monate vergingen noch, bis ich endlich meine Entlassung vom Militär erhielt und meinen Plan, zum Theater zu gehen, ausführte.

Ich wandte mich wieder nach Köln und stellte mich einem Theateragenten vor. Dieser verschaffte mir ein Engagement nach Trier ans dortige Stadttheater.

Auf Anraten des Agenten mußte ich ein Repertoir gespielter Rollen aufsetzen, denn ohne solches engagiert man einen Schauspieler nicht. Die Rollen, die ich auf dem Liebhabertheater gespielt hatte, genügten dem braven Manne aber nicht, ich mußte welche hinzu lügen, und mit Herzklopfen und leerem Geldbeutel reiste ich den Rhein und die Mosel hinauf ins erste Engagement nach Trier.

Quelle:
Junkermann, August: Memoiren eines Hofschauspielers. Stuttgart [1888]., S. 15-22.
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