XXXI.

[261] Nach dem schönen Wiesbaden rief mich bald wieder die Pflicht. Ich kann sagen, stets mit besonderem Vergnügen lenke ich meine Schritte dorthin. Der liebenswürdige Intendant Adelon, das gemütliche Theater, das internationale Treiben, alles das macht mir mein jedesmaliges Gastspiel dort besonders angenehm.

Augenblicklich befinde ich mich wieder hier, leider nur als »Kurgast«, denn das erschütternde Ereignis: Kaiser Friedrichs Tod, machte mein Gastspiel, welches gerade Mitte Juni beginnen sollte, unmöglich. So trinke ich denn Brunnen und bade. Ich habe meinen alten »Onkel Bräsig« so oft dargestellt, daß mir auch dessen »entfahmtes Podagra« in die Glieder gefahren ist, und suche nun diesem energisch zu Leibe zu gehen.

Herrliche Ausflüge lassen sich in die Umgegend Wiesbadens machen. Das Niederwald-Denkmal sehe ich mir alljährlich an, und immer wieder ist sein Anblick erhebend für jedes deutsche Herz.

Von Biebrich bis Koblenz – wie herrlich ist es dort den Rhein hinunter zu fahren!

Kürzere Touren mache ich oft nach Eltville und Walluf am Rhein. Der Bürgermeister und Weinwirt von Walluf hat einen schönen Garten und manchen edlen Tropfen deutschen Rebenblutes. Vielleicht ist aus diesem Grunde die Poesie in sein Gemüt gefahren, denn während andere prosaische Menschen eine Warnungstafel in ihrem Garten aufhängen, des[262] Inhalts: »Es ist verboten, Blumen abzupflücken«, prangt an seinen Rosen folgende poetische Warnungstafel:


»Wir bitten, uns nicht abzubrechen,

Wir Rosen sind wie Jungfern fein,

Wir wollen nur betrachtet sein!

Nicht begriffen, nicht berochen,

Noch viel wen'ger abgebrochen!« – –


Wiesbaden ist als Badeort übrigens sehr ernst zu nehmen. Wenn man die vielen knickebeinig dahinwandelnden Rheumatiker und die zahllosen, mir schrecklichen Rollstühle sieht, so kommt mir mein kleiner Anfall noch ziemlich harmlos vor; trotzdem will ich meine Kur sehr gewissenhaft einhalten, denn »gut is es doch Korl vor dem entfahmten Podagra«.

Im Kurpark ist diese Saison ein recht lebhafter Verkehr und es ist nur schade, daß es in »einemfort nicht aufhört zu regnen.« Einem dunklen on dit zufolge sollen daran die wiederholten Ankündigungen des Kurdirektors Hey'l: »Heute Feuerwerk und Illumination« schuld sein. Man kann mit Sicherheit darauf rechnen, daß es regnet, wenn Hey'l ein Gartenfest annonciert. Thatsache ist, daß jetzt das schönste Theaterwetter ist, um natürlich in südafrikanische Glut auszuarten, sowie sich die Pforten des Musentempels wieder öffnen.

Das kleine Theater am Bowlinggreen soll nun auch bald einem größeren weichen, wenigstens zankt man sich schon seit Jahren in den Zeitungen herum, auf welchem Platz es erbaut werden soll.

Für mich knüpfen sich die schönsten Erinnerungen an Wiesbaden. Wie schon an anderer Stelle erwähnt, hatte ich hier das mir unvergeßliche Erlebnis mit Kaiser Wilhelm I, dessen Leutseligkeit es mir zum schönsten Ereignis meines Lebens machte, hier vor seinen Augen meines Fritz Reuter's Gestalten vorgeführt zu haben.

Da fällt mir noch eine Episode ein, die sich bei meinem damaligen Gastspiel ereignete. Wir hatten Probe zu »Ut de[263] Franzosentid«, und als ich nun an die allerdings etwas kräftigen Stellen des »Müller Voß« kam, springt der Oberregisseur vom Stuhl auf und ruft: »Das ist unmöglich! Da ziehe ich meine Hand zurück! Das können wir nicht vor Sr. Majestät spielen« und stürzt zum Intendanten, um ihm anzuzeigen, daß das Stück nicht gegeben werden könne.

Der liebenswürdige, mir stets zugethane Adelon läßt mich rufen und stellt mich dieserhalb zur Rede. Als ich ihm meine ehrliche Ueberzeugung ausgesprochen, daß er dies Stück ohne Bedenken, auf meine Verantwortung, geben könne, hatte er so viel Vertrauen zu mir, daß er die Vorstellung ruhig stattfinden ließ, und gerade dieser Abend brachte mir die reinsten Freuden, denn mein Kaiser und König sprach jene unvergeßlichen Worte zu mir, die ich an anderer Stelle wiedergab.

Und so, wie bei jener Gelegenheit, konnte ich immer auf die Unterstützung und Liebenswürdigkeit des Wiesbadener Intendanten Adelon rechnen.

Auch meines langjährigen Freundes und Fachkollegen Ewald Grobecker sei hier in Ehren gedacht. Es gibt Freundschaft beim Theater, so schwer auch die Welt und noch schwerer die eigenen Kollegen daran glauben wollen. Grobecker war mir immer ein lieber Freund und niemals ein neidischer Kollege. Er hat mir das erste Wiesbadener Gastspiel vermittelt, was ich ihm als Fachkollegen sehr hoch anschlage.

Augenblicklich, während ich dies schreibe, spielt sich hier das »Serbische Königsdrama« ab. Polizisten und eine dichte Menschenmenge stehen in der Wilhelmsstraße vor der Villa Clementine. Hier wohnt die schöne serbische Majestät, der heute ihr Sohn, der serbische Kronprinz, mit polizeilicher Gewalt entrissen wird.

Man mag nun darüber denken wie man will – auch über ihre Scheidungsangelegenheit mit König Milan sich ein Urteil bilden, aber einen ergreifenden Eindruck machte es doch, die hohe schöne Frau weinend am Fenster stehen zu sehen, und ihrem[264] mit Gewalt entrissenen Sohne ein Lebewohl nachwinkend. Noch heute muß sie selbst Wiesbaden verlassen. Sie war hier sehr gern und sprach sich noch vor kurzem ganz entzückt über Wiesbaden aus, »eine Stadt«, wie sie in ihrem reizenden Kauderwelsch sagte, »so salubre, so coquette«.

Und das ist Wiesbaden auch, ein einziger großer Garten an den Abhängen des Taunus.

Wiesbaden hat, wie jede Badestadt, seine typischen Erscheinungen und außer den oben erwähnten Rollstühlen fallen einem auf der Wilhelmsstraße eine Menge alter strammer Gestalten mit grauem oder weißem Schnurrbart auf, denen man auf zehn Schritte den gewesenen Offizier ansieht. Wiesbaden heißt nicht umsonst »Pensionopolis«, denn eine große Anzahl pensionierter Offiziere beschließen hier ihren Lebensabend, und wenn man auf der Wilhelmsstraße laut »Herr Hauptmann!« »Herr Oberst«, oder »Herr General« ruft, werden sich mindestens zwanzig Herren umsehen.

Hier im schönen Wiesbaden, meinem Lieblingsaufenthalte, will ich meine Aufzeichnungen schließen. Mögen die, was geschehen, verantworten, die mich zu diesem litterarischen Verbrechen verleitet haben, und neu gestärkt durch Wiesbadens Heilquellen will ich wieder meinen Wanderstab in die Hand nehmen, um zunächst wieder jenseits des Ozeans, in Amerika mein Glück zu versuchen.

Aufs neue tragen mich die Wogen des Lebens auf die Wogen des atlantischen Ozeans. O Legende vom Ahasverus, dir sollte eine ebenbürtige zur Seite gestellt werden: »das ruhelose Wandern des deutschen Komödianten!« –

Ein einfacher Federstrich eines Königlich Württembergischen Beamten löschte meinen Namen aus den Aufzeichnungen der Stuttgarter Hofbühne, aber – gottlob – nicht aus denen der deutschen Kunstwelt; dieser Federstrich lenkte mich aufs neue in eine unruhvolle Bahn – aber heute, nach den Wandlungen eines Jahres, bin ich damit ausgesöhnt. Der Sturm der Zeit, der alles früher oder später niederreißt im unabsehbaren[265] Gewirr – –, mich hat er nicht gebrochen, und wenn der Himmel mir Gesundheit läßt, will ich mich aufrecht halten durch die beseligende Kraft der göttlichen Schauspielkunst; und angeregt durch eines deutschen Dichters humorvolle Werke, die mich in höhere Regionen getragen, will ich, der eigenen Kraft vertrauend, im Sturme aushalten, bis ich meine Mission erfüllt und Ruhe und Pension – – mir selber gegeben habe. Bis dahin, mein großer Fritz Reuter, zu dem ich so oft in meiner Künstlerlaufbahn begeistert emporblickte, »streben ist leben« – unter deinem Zeichen werde ich weiter streben, und mir aus deinem nie versiegenden Born neue Kraft zu deiner Verkündigung und Verherrlichung schöpfen:


Das walte Gott![266]

Quelle:
Junkermann, August: Memoiren eines Hofschauspielers. Stuttgart [1888]., S. 261-267.
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