IV.

[29] Unglückliches Wiedersehen im Vaterhause!

Mein Vater war unglücklicher als ich selber. Was nun?

Als wir diese Frage ventilierten, riß uns eine Einberufungsordre aus allem Nachdenken. Die preußische Artillerie wurde mobil gemacht und man konnte mich absolut dabei nicht entbehren. Ich ward wieder Soldat. Fünfzehn Monate brauchte man, um mich kriegstüchtig zu machen, und als ich endlich soweit wieder war, jedem Feinde die Spitze bieten zu können, wurde abgerüstet und wir konnten wieder nach Hause gehen. So ist mir's wiederholt ergangen, es wollte mir nie gelingen, meine militärischen Talente zu verwerten. Ich war mittlerweile zu alt geworden, um einen andern Beruf zu wählen und fristete nun mein Leben in kläglichen Engagements, wie Schleswig, Wolfenbüttel, Annaberg, Plauen etc. In Schleswig krachte der Thespiskarren wieder ganz bedenklich, so daß ich genötigt war, mich zu Fuß auf die Wanderschaft zu begeben. Ich kam bis Altona – hier war der letzte Groschen verzehrt.

Ich kehrte ohne einen Pfennig in der Tasche in einem Gasthaus der untersten Sorte ein. Als ich am andern Morgen mein Logis und meine Tasse Kaffee nicht zahlen konnte, erklärte mir der Wirt, daß ich ausziehen müsse, und daß ohne Barzahlung mir keine Speisen und Getränke mehr verabreicht würden. Traurig wanderte ich über St. Pauli nach Hamburg. Von einem dortigen Theateragenten wurde mir ein Engagement nach Crefeld offeriert. Wie gern hätte ich das Gebotene acceptiert, allein wie nach Crefeld kommen? Mein[30] bißchen Garderobe war in Schleswig versetzt. Ich besaß nichts als einen treuen Hund, einen Spitz, den ich mir in Schleswig angeschafft, und der sich selbst bei schmaler Kost nicht von mir trennen wollte. Ich hatte es versucht, das Tier bei einem Schneider in Schleswig zurückzulassen, bei dem ich gewohnt hatte, allein ich hatte kaum die Thore der Stadt verlassen, als der treue Hund mir nachgelaufen kam und mit einer Freude an mir heraufsprang, daß ich es nicht vermochte, ihn zu seinem neuen Besitzer zurückzubringen.

»Zieh mit mir in die Welt,« sagte ich ihm, »ich will mit dir teilen, was ich habe.« Allein ich hatte nichts, und das läßt sich schwer teilen. Als ich von Altona nach Hamburg ging, ließ ich Spitz zu Haus. Der Agent riet mir, ich sollte mich an Herrn Gloy wenden, der damals den Unterstützungsfonds des Hamburger Stadttheaters verwaltete. Schüchtern trat ich bei Herrn Gloy ein und brachte meine Bitte vor – ich wurde abgewiesen. Ich wollte einen Revers ausstellen, durch welchen ich das vorzuschießende Reisegeld nach Crefeld von meiner dortigen Gage mir in Abzug bringen lassen wollte, – es war alles umsonst, der Unterstützungsfonds war erschöpft und mir konnte nichts gegeben werden.

Es ist das einzige Mal in meinem Leben gewesen, wo die Not mich trieb, eine Unterstützung zu erbitten. Zum Kollektenmachen beim Theater gehört aber auch ein besonderes Talent. Die Schauspieler sind fast alle mildthätige Menschen, aber ein verschämter Armer findet schwer Unterstützung bei ihnen, das Unglück muß einem auf dem Gesichte stehen oder wenigstens muß man es schildern können, daß es Herzen erweicht – dann aber gibt der Künstler auch seinen letzten Pfennig, selbst dem Unwürdigen. Ich habe sogenannte Kollektenbrüder kennen gelernt, die Jahre lang außer Engagement waren und durch Kollekten ein weit ergiebigeres Einkommen sich schafften, als dies ein gutes Engagement zu thun imstande gewesen wäre. Mich hat nun der Himmel mit einem gesunden Aeußern immer erhalten – ich mußte wohl nicht den Eindruck eines Hilfsbedürftigen[31] auf Herrn Gloy gemacht haben. Mit Verzweiflung im Herzen kehrte ich nach Altona in mein Hotel zurück, und schlich mich auf mein Zimmer, um vom Wirte nicht gesehen und hinausspediert zu werden. Spitz empfing mich mit wahrem Geheule – es war Freude und Hunger!

Sorgenvoll lehnte ich den Arm auf den Tisch, den Kopf, der keinen Ausweg zur Rettung mehr fand, darauf stützend. Spitz sprang auf meinen Schoß und leckte mir die Hand, als wollte er mich trösten.

»Komm, Spitz,« sagte ich, »wir wollen zu Bette gehen – im Schlaf vergessen wir den Hunger!« Spitz lag im Bett zu meinen Füßen, ich konnte nicht schlafen – diese Nacht war die schrecklichste meines Lebens. Mir schwirrte es immer durch den Sinn:


»Wer nie sein Brot mit Thränen aß,

Wer nie die kummervollen Nächte

Auf seinem Bette weinend saß,

Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte!«


Ja, guter Goethe – ich habe sie kennen gelernt. Du sprichst von Brot mit Thränen genossen – ich hatte nicht einmal Brot, nur Thränen!

Am andern Morgen faßte ich den Entschluß, mein Ende standhaft und geduldig abzuwarten, wie es mir das Schicksal bescheiden wollte. Ich blieb den Tag über im Bette liegen, ich fühlte mich matt. Spitz sah mich trauriger an als tags zuvor, er winselte wohl vor Hunger – aber er murrte nicht. Ich nahm das Tier in meinen Arm: »Komm, Spitz, die Welt mag uns nicht mehr!« Trübe Gedanken beschlichen mich, ich war dem letzten Schritte nahe! Meinem Vater wollte ich meine Lage nicht mitteilen – ich hielt mich für verloren und wollte sterben. Der dritte Tag kam heran, es war bereits Nachmittag. Der unbarmherzige Wirt hatte mir durch einen Hausdiener sagen lassen, wenn ich nicht am nächsten Morgen sein Haus verlasse, wolle er zur Polizei schicken. Am Nachmittagedes dritten Tages nun pocht es an meine Thür, Spitz bellte noch – aber matt – ich rufe »Herein!« Ein Fremder tritt ein:

»Entschuldigen Sie, ich höre vom Wirte unten, Sie sind vom Theater!«

»Jawohl,« sage ich, »ich bin der Schauspieler Junkermann.«

»Ach,« seufzt er, »ich bin der Theatermeister Ellwanger, ich komme von Husum, unser Direktor hat Pleite gemacht, ich habe mir bis hierher geholfen und wollte Sie um eine kleine Unterstützung bitten, damit ich doch weiter reisen kann!« –

»Wollen sie meinen Hund?« fragte ich, »verkaufen Sie ihn. Das Tier geht sonst mit mir zu Grunde.«

»Ach,« meinte er, »wer kauft den Köter?«

Und ich fand ihn doch so hübsch! Als der Mann mein Geschick vernommen, daß ich drei Tage selber nichts genossen, vergaß er sein eigenes Leid, stürzte fort und kehrte nach Verlauf einer Stunde mit einem Paket zurück. Spitz sprang auf ihn zu, wedelte mit dem Schwanze und schnüffelte an dem Paket herum.

»Ja, du bekommst auch,« sagte Ellwanger, »aber erst dein Herr!«

Der gute Ellwanger, der neben seiner Eigenschaft als Theatermeister in großen Ritterkomödien mit starkem Personal auch als Schauspieler mitzuwirken gewohnt war, besaß als Garderobeinventar ein paar kunstvoll aus Papier geschnittene Ritterfedern fürs Barett, die sich jeder Schauspieler laut Kontrakt selber halten muß. In jener Zeit trug man noch diese Federn aus buntem Papier geschnitten, die Bühnenbeleuchtungsapparate jener Zeit gestatteten solche Täuschung noch. Diese Federn, als das letzte, was er besaß, hatte er in aller Eile dem Direktor des Elisiumtheater auf St. Pauli (Dannenberg) verkauft. Einen geeigneteren Käufer konnte er nicht finden als Dannenberg. Obs heute noch so ist, weiß ich nicht, aber zu jener Zeit stand der Direktor dieses Theaters auf St. Pauli[34] meist im Ritterkostüm vor seinem Theater und rief: »Immer 'rein, immer 'rein, meine Herrschaften, sogleich beginnt das große Trauerspiel ›Die Räuber von Schiller‹, ein höchst wördiges Stück für jedermann, immer 'rein, immer 'rein!« Solcher wördigen Stücke wurde jede halbe Stunde eins aufgeführt – infolgedessen hatte der Mann starken Verbrauch an Barettfedern. Ellwanger hatte für ein paar Schillinge seinen Federschmuck ihm verkauft.

In Hamburg war damals die erste Pferdeschlächterei eingerichtet worden und Pferdefleischwurst war außerordentlich billig. Ellwanger brachte ein ganzes Paket solcher Würste mit. Ich habe später oft an manchem lukullischen Mahle teilgenommen, habe an fürstlichen Tafeln gesessen, aber wie diese Pferdewurst hat mir nie wieder etwas geschmeckt.

Mein Spitz teilte diese Ansicht wie die Wurst mit mir.

Nachdem ich mich nun mit Ellwanger näher ausgesprochen, und in ihm wahrgenommen, daß es doch noch gute Menschen gab, faßte ich auch wieder Lebensmut. Ich wandte mich an eine Tante in Pr.-Minden, entdeckte ihr meine Lage, und sie half. Ellwanger bekam ein Engagement nach wenigen Tagen, ich ließ durch ihn meinen einzigen Rock versetzen, zahlte dem Wirt mit dem Erlöse unser Logis, blieb in Hemdsärmeln ein paar Tage zu Hause, bis der Geldbrief von meiner guten Tante ankam, löste meinen versetzten Rock wieder ein, und nahm von Ellwanger Abschied wie von meinem besten Freunde. War er doch mein Lebensretter geworden! .. Nach langen Jahren habe ich ihn in Stuttgart wiedergesehen, er besuchte mich, als ich in besseren Verhältnissen war. Nie hat mein Haus größere Festtage gesehen, nie habe ich einen Freund wärmer ans Herz gedrückt. Unsere Lebensstellungen gingen später weit auseinander – ich habe ihn dann nie wiedergesehen, aber wenn er noch lebt und dies liest, so möge er sich melden, – ich will ihm alles vergelten; denn der Name Ellwanger steht mit Flammenschrift in meinem dankbaren Herzen geschrieben! – –

Ich trieb mich lange noch nach dieser Hamburger Katastrophe[35] an kleinen Bühnen herum, und lernte alle Not der »Thespiskarrenschieber« kennen, bis ich endlich in St. Gallen das erstere bessere Engagement fand.

Spitz hat mich begleitet bis an sein Ende. Er starb in Kempten zu einer Zeit, als der dortige Direktor Spielberger seine Zahlungen einstellte und wir auf Teilung weiter spielten – Spitz hat traurige Zeiten mit mir durchlebt, aber das Unglück und die Not hatten uns fest aneinander gekettet. Ich bin Liebhaber von Hunden – ein treueres Tier als dieses habe ich nie wieder besessen. Es sind dreißig Jahre darüber vergangen, aber ich sehe heute noch den Blick des dankbaren Tieres, als es sich in Kempten in seiner Todesstunde von seinem Krankenlager erhob, das es tagelang nicht verlassen, seinen Kopf mühsam zu mir wandte, um mir mit seinem letzten stummen Blicke zu sagen: Ich danke dir für deine Pflege, für alles Gute, was du an mir gethan! – Es mag Leute geben, die über solche Sentimentalität lachen – ich habe bitterlich über den Verlust des Tieres geweint!!

Quelle:
Junkermann, August: Memoiren eines Hofschauspielers. Stuttgart [1888]., S. 29-36.
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