Sechzehntes Kapitel

Im Badeort.

[71] Im Badeort soll man möglichst unauffällig auftreten, wenn man dem guten Ton Rechnung tragen will.

Besonders haben einzelne Damen auf fremdem Boden auffallende Kleidung, auffallendes Gebahren zu vermeiden, wenn sie nicht verkannt sein wollen.

Viel Geschmeide zu tragen ist im Badeort, wie überhaupt auf der Promenade, taktlos. Es wirkt aufdringlich und kann, da gerade in einem Badeort unter der Maske äußeren Prunkes manche zweifelhaften Persönlichkeiten sich breit machen, zu Mißverständnissen Veranlassung geben.

Seinen Bekannten gegenüber kann man sich in einem Badeort, wo man sich täglich mehrmals sieht, zwangloseren Umgangsformen hingeben, als im gewöhnlichen Leben, ohne gegen den guten Ton zu verstoßen. Vor zu großen Intimitäten[71] aber hüte man sich dennoch, diese sind im Alltagsleben oft schwer wieder abzuschütteln.

Vor allen Dingen hüte man sich im Badeort vor übereilten Bekanntschaften, weil, wie gesagt, nicht alles Gold ist, was glänzt, und solche Beziehungen einem dann zu anderen Zeiten leicht peinlich und lästig werden können.

Besonders sollten Damen, die ohne Herrenbegleitung ein Bad aufsuchen, nach dieser Richtung hin sehr vorsichtig sein.

Den Damen seiner Bekanntschaft kann ein Herr am Brunnenplatz, selbst wenn er nur oberflächlich mit ihnen bekannt ist, Blumen spenden, desgleichen beim Abschied. Während des Brunnentrinkens können junge Herren und junge Damen ungeniert miteinander promenieren.

Am Brunnen haben Herren vor den Damen zurückzutreten, ihnen die Becher zu füllen usw. Junge Damen haben am Brunnen vor älteren Damen ebenfalls zurückzutreten, desgleichen junge Herren vor älteren Herren.

Bei Spaziergängen und Partien haben die Herren den Damen Jacketts, Plaids, Schirme zu tragen.

Seinen Arzt darf man, wenn man ihm auf der Promenade begegnet, nicht zu lange in Anspruch nehmen, da viele andere seiner harren.[72]

In der Badezelle allzulange zu verweilen, ist eine Unhöflichkeit und Rücksichtslosigkeit gegen andere Badegäste.

Ein Herr hat sich bei den Damen seiner Bekanntschaft früh am Brunnen nach ihrem Befinden zu erkundigen.

Desgleichen haben junge Mädchen ältere Damen ihrer Bekanntschaft nach ihrem Befinden zu befragen und bei Zusammenkünften aufmerksam und gefällig gegen diese zu sein.

Bei seiner Abreise hat man im Badehaus, am Brunnen, im Gasthaus, im Logierhaus angemessene Trinkgelder auszuteilen. Es ist gegen den guten Ton, wenn gutsituierte Leute, denen ein Badeaufenthalt nach anderer Richtung hin soviel kostet, bei dieser Gelegenheit knausern.

Stößt einem Landsmann oder einer Landsmännin in einem Badeort irgendein besonderes Unglück zu, so hat man den Betreffenden hilfsbereite Teilnahme entgegen zu bringen, selbst wenn man des weiteren gar nicht mit ihnen bekannt ist. Das verlangt vor allem das Menschlichkeitsgefühl – aber auch der gute Ton von gebildeten Leuten.[73]

Quelle:
Kallmann, Emma: Der gute Ton. Berlin 1926, S. 71-74.
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