Einundzwanzigstes Kapitel

Lektüre.

[83] Die Lektüre eines Menschen kann ebenfalls von gutem, sie kann aber auch von schlechtem Ton sein.

Unsere heutige Literaturströmung bringt viel Wahres, viel Richtiges für den, der mit der nötigen Kritik der Erfahrung und Reise ihre besseren Erzeugnisse in sich aufnimmt – aber auch viel Gefahren für den unreifen Leser.

Besonders die Lektüre eines jungen Mädchens soll ungeachtet aller Strömung, dem guten Ton sich anpassen. Für das Höchste, für wahre Ideale sollen die Herzen unserer Jugend durch Lektüre begeistert und entflammt werden. Nicht das Laster, nicht die Nachtseiten des Lebens aber dürften sie zu diesem Zwecke aus Büchern kennen lernen. Schlimm genug, daß so viel Laster, so viel Häßliches, Abschreckendes in der wirklichen Welt existiert. Der Anblick von Auswüchsen wird im wirklichen Leben hin und wieder leider[83] wohl auch nicht unserer Jugend erspart bleiben. Aber nicht aus Büchern sollen sie schädigende Einflüsse schöpfen. Die Literatur, die unserer Jugend zugeführt wird, soll nur ein Abglanz des Besten sein. Nur zum Guten soll die Literatur unsere Kinder beeinflussen.

Schlechte Lektüre ist nicht nur gegen den guten Ton, sie entnervt und erschlafft auch, während ein gutes Buch Geist und Phantasie veredelnd – nicht nur angenehme Unterhaltung, sondern auch wahrhaften Nutzen gewährt.

»Sage mir, mit ›wem‹ du umgehst, und ich will dir sagen ›was‹ du bist.«

Sage mir, was du liest, und ich will dir sagen wie du bist.

Belesenheit gehört heutzutage zum guten Ton.

Eine gebildete Dame, ein strebsamer junger Mann muß heutzutage über anerkannt gute Werke der älteren, sowie der neueren Literatur unterrichtet sein.

Eltern sollen die Lektüre ihrer Kinder, besonders der heranwachsenden, möglichst kontrollieren, das gehört ebenfalls mit zum guten Ton der Erziehung. – Sie sollen aber auch hierin des Guten nicht zuviel tun – indem Kinder durch die verhängnisvolle Macht der verbotenen Frucht verlockt, dann vielleicht heimlich desto eifriger lesen, was ihnen öffentlich nicht gestattet ist. »Klassiker«[84] lasse man seine Kinder vom siebzehnten Jahre ab, unbeschadet ihrer anstößigen Stellen, allgemein lesen.

Der klassische Wert eines edlen Dichtwerkes hebt den Einfluß einer zeitweiligen Anstößigkeit des Ausdruckes auf. Er wird deshalb die junge Seele in jedem Fall eher veredeln als schädigen.

Die Werke und Bücher, die eine Häuslichkeit aufweist, müssen gelesen aussehen, sie dürfen nicht unangetastet funkelnagelneu im Bücherschrank stehen, wie wenn sie nur zur Vervollkommnung der stilvollen Einrichtung dort placiert waren. Das ist durchaus gegen den guten Ton.

Noch eine kleine Warnung am Schluß dieses Kapitels. Man soll Bücher, die man sich geliehen hat, ebenso pünktlich wieder zurückgeben wie irgendeine andere Wertsache. Auch das verlangt der gute Ton im gegenseitigen Verkehr.

Die meisten Leute sind von dem Irrtum befangen, daß man mit der Zurückgabe von Büchern nicht so pünktlich zu sein braucht wie mit anderen Dingen. Manche geben geborgte Bücher überhaupt nicht zurück, nicht etwa aus Aneignungstrieb, sondern aus Nachlässigkeit, und weil der Verleiher in den meisten Fallen zu höflich ist, auf die Zurückgabe von Büchern zu drängen.

Es wird aber durch diesen Umstand ein Austausch von Geisteswerken, der unbedingt im Interesse[85] allgemeiner Fortbildung sehr viel für sich hat, erschwert, da doch viele in Anbetracht dieses anerkannten Umstandes zögern, ein ihnen wertvolles Buch zu verleihen.

Es ist dies keinesfalls Engherzigkeit, sondern begründete Vorsicht. Mit Recht sollte jeder seine Bücher nur solchen Leuten borgen, von deren Pünktlichkeit des Zurückgebens er überzeugt ist.

Es gehört auch zum guten Ton, ein Buch, das man sich geliehen hat, in möglichst gut erhaltenem Zustand zurückzugeben.[86]

Quelle:
Kallmann, Emma: Der gute Ton. Berlin 1926, S. 83-87.
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