Der Anzug.

[15] »Das Kleid macht den Mann«, – ist ein altes Sprüchwort, dessen Wahrheit jedoch nicht immer anzuerkennen ist. Der modernste, eleganteste Anzug, zur Unzeit getragen, läßt gewiß nicht auf eine feine Erziehung schließen. Außerdem sprechen die Art und Weise, wie man etwas trägt, die Harmonie des ganzen Anzuges, wesentlich mit, wenn man den Menschen nach seiner Kleidung taxiren will.

Ich setze den Fall, eine Dame trüge im Winter ein helles Seidenkleid im Schmutz der Straßen, oder ein Herr ginge, mit Frack und weißer Halsbinde spazieren, so würde dieses niemals als guter Ton gelten.

Es giebt noch ein anderes Sprüchwort, was, in Bezug auf. Kleidung, viel zu wenig beachtet wird: Eines schickt sich nicht für Alle.

Ja, wollte dieses nur die alte Dame bedenken, die mit ihrer korpulenten Gestalt, einen kurzen Rock mit aufbauschender Tournüre, eine eng anschließende Taille[15] trägt, in der sie kaum zu athmen vermag. Oder jener Herr, der so klein ist und sich durch einen carrirten Anzug förmlich zur Karrikatur macht. Weiß jenes junge Mädchen nicht, daß helles Haar eine kräftigere Farbe des Hutes verlangt? Beachtet Jene mit dem gelben Teint gar nicht, daß ihr Rosa nicht zu Gesicht steht? Möchte jenes Mädchen, das am Waschzuber im Kleide mit Plisseefalten und langer Schleppe hantirt, nicht lieber ein rechtliches Leinen- oder Baumwollkleid tragen?

»Eines schickt sich nicht für Alle!« Damit ist gesagt, daß man das Alter zu berücksichtigen hat. Für ältere Leute gehören dunkle Farben, Kleider von bequemem Schnitt, gutem Stoff und mit gutem Besatz.

Ferner ist zu beachten die Gestalt, die Gesichtsfarbe, die Farbe der Haare resp. des Bartes.

Es würde nicht in den Rahmen dieses Buches passen, wollte ich mich hier ausführlicher ergehen über Geschmack und Wahl der Kleidung. Mir ist es nur immer ein Räthsel geblieben, wie unsere zahlreichen Modejournale stets alle ihre Vorschriften für normal gewachsene und voraussichtlich schöne Menschen aufstellen, während die Kleinen, Kugelrunden, die Hopfenstangen, die Verwachsenen ihnen doch gewiß für einen Rath sehr dankbar wären. Was die letzteren anbetrifft, so ist ein langes Jaquet, welches die Taille nicht bezeichnet, für Herren und Damen das Passendste.

Ich kann nicht umhin, bei dieser Gelegenheit zu bemerken, daß Jeder, der irgend eine körperliche Entstellung hat, durch die Kleidung Sorge tragen muß, dieselbe den Blicken seiner Nebenmenschen zu entziehen. z.B. einen Kropf suche man zu verdecken durch ein leichtes Halstuch, ein fehlendes Auge durch eine Brille, einen Fehler am Ohr durch die Haartracht u.s.w.

Die Kleidung muß nicht allein dem Stande angemessen sein, sondern auch der Arbeit, die man zu verrichten hat. Wenn die einfache Bürgerfrau darin mit der Frau des reichen Banquiers rivalisiren wollte, so würde das sehr thöricht sein, ebenso als wenn ein Dienstmädchen danach strebt, es ihrer Herrschaft gleich zu thun? Vergesse man doch nie, daß ein schöner Hut, ein elegantes[16] Kleid stets des Eindruckes verfehlt, wenn nicht der übrige Anzug damit harmonirt. Ja, zu einer eleganten Kleidung gehört auch eine elegante Umgebung, Wohnung, Zimmereinrichtung, Bedienung. Wer sein eigener Dienstbote ist, die Hausfrau, die nicht von dem Küchenheerde fortkommt oder den Tag in der Kinderstube zubringt, handelt verkehrt, wenn sie, durch stundenlanges Anputzen ihrerselbst und der lieben Kleinen, den Ausgang in die frische Luft verzögert.

Der Anzug sei einfach, nicht unmodisch, vor allen Dingen rein und accurat.

Es kostet nicht mehr Zeit, wenn man den Hut gerade aufsetzt, die Brosche nicht schief steckt, und die Cravatte regelrecht bindet, als wenn man dieses alles nachlässig thut.

Knöpfe, Haken dürfen niemals fehlen, sei es an Hemden, Westen, Kleidern oder Handschuhen, wenn der Anzug nicht den Eindruck der Nachlässigkeit machen soll. Die Schicklichkeit erfordert es, daß man stets so gekleidet ist, wie man sich vor Andern sehen lassen kann.

Ordentlich und rein muß alles sein, sei es das einfache Hauskleid der Tochter, der schlichte Morgenrock der Hausfrau, welcher jedoch, wenn irgend möglich, vor der Tischzeit abzulegen ist.

Ordentlich und sauber muß auch die Fußbekleidung sein, sowohl was die Strümpfe, als Stiefel und Schuhe anbetrifft. Unter keiner Bedingung erlaube man sich niedergetretene Pantoffeln zu tragen, ja, Pantoffeln überhaupt. Und hiermit wende ich mich besonders an die Herren, damit sie sich nicht beklagen können, in diesem Capitel zu kurz gekommen zu sein.

Ich habe bemerkt, daß sogar junge Männer sich nicht geniren den halben Tag in Pantoffeln, mit bunten Blumen oder grausigen Thierköpfen bestickt, umher zu wandeln, daß sie sich sogar erlaubten, bei einem Damenbesuche, den die Mutter erhielt, also zu erscheinen. Dergleichen ist durchaus unschicklich und sollte sich kein Herr, weder alter noch junger, gestatten. Wirklich feine Leute tragen, auch im Hause, stets anständig sitzende Stiefel. Kann man aber seiner Bequemlichkeit so gar nicht Herr[17] werden, so giebt es schwarze Hausschuhe, die solches Sichgehenlassen weniger sichtbar machen. Unsern jungen Mädchen citire ich zur Warnung den Ausspruch einer Pariserin, die erklärte: »das Tragen von Schuhen macht den Fuß breit.« – Also nehmen Sie guten Rath an, meine Herren und Damen und benutzen Sie die Pantoffeln nur, um bei der ersten Morgentoilette hinein zu schlüpfen, und da ich nicht unbarmherzig sein will, mache ich auch, während des Frühstücks, in dieser Beziehung eine Concession.

Noch einmal die Herren und – die Schlafröcke. Man kann letztere nicht entbehren bei Krankheiten, aber übrigens auch nicht?

Mein Vater wurde achtundsiebenzig Jahre alt, aber er trug bis zu seinem Tode stets eine graue oder braune Joppe. Die Tracht ist sehr bequem, nicht philisterhaft wie der Schlafrock. Kann es aber nicht anders sein, ist der Schlafrocksträger schon zu alt geworden über dieser leidigen Bequemlichkeit, dann lege er dieses Gewand wenigstens zur Tischzeit ab und trage bis dahin ein gutes Taghemd und eine Weste dabei. Das ist das wenigste, was man von einem Manne, der nicht jedes Schicklichkeitsgefühl achtlos von sich weist, verlangen kann.

Quelle:
Kistner, A.: Schicklichkeitsregeln für das bürgerliche Leben. Guben 1886, S. 15-18.
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