Fortsetzung des Lebenslaufs.

[152] Wenn der Leser bis hieher dem innern Gang der Geschichte gefolgt ist, so wird er sehen, wie auf ein so unschuldiges ächt poetisches Gemüth die mannichfaltigen Gestalten des Lebens gewirkt haben; wie sie sich im Unglücke resignirte, wie streng sie gegen sich selbst war, und wie sie sich bei allem, was ihr vorkam, etwas Höheres dachte. Sie selbst hatte Augenblicke des hellen Bewußtseyns ihres eigentlichen Werthes. So z.B. sagt sie in ihrem Tagebuch: Wer kann lieben, wie ich geliebt haben würde? Sie hatte Recht: einer so innigen, duldenden,[152] aufopfernden Treue und Liebe hab ich noch niemand fähig gesehen.

Mehrere Jahre nach ihrer Verheirathung, da ihr erstes Kind, ihre Wirthschaft, ihre Sorgen, und die innere Zerrüttung ihres Hauswesens, sie wechselsweis froh und trübe beschäftigten, wurde sie von neuem schwanger. In den letzten Wochen vor der Entbindung beschäftigte sie sich mit Filetmachen; den verfertigten Filet nähte sie mit Blumen aus, heftete ihn auf himmelblauen Atlas, und umgab ihn mit Spitzen, so daß sie das Taufkissen, das Kleid, das Mützchen und die Handschuh ihres zu hoffenden Kindes daraus verfertigte. Eines so künstlichen und zierlichen Taufzeuges war dies Kind mehr als würdig, denn es war ein schon auf Erden verklärter Engel, das versinnlichte Bild der reinsten und blühendsten Phantasie; ja ich kann sagen, daß dies Kind das innere Wesen[153] ihres Gemüths auf das herrlichste aussprach, und wenn es noch Wunder giebt, so war dieser Knabe gewiß eine Erscheinung von Oben herab, um meine Mutter eine Zeitlang auf der Bahn des Lebens zu geleiten.

Er fiel nach dem ersten Bade in einen sanften Schlummer, welcher über sein Gesicht eine himmlische Ruhe verbreitete, und drei Tage lang währte. Erst nachher bekam er die Brust, und von da an wurd er unruhig. Meine Mutter beobachtete ihn im Schlaf, und fand in ihm das Bild der Engelsköpfchen wieder, die so oft ihr vorgeschwebt hatten in der ersten Jugend. Indeß nahmen die Unruhen zu, die ihm körperliche Schmerzen machten, und die er dann auch äußerte; er hatte zwar eine liebliche Stimme, selbst wenn er schrie, allein er schrie doch. Eines Tages war er mit[154] nichts zu stillen, nicht mit der Brust, nicht mit Schaukeln; die Mutter giebt ihm einen Stöpsel mit Zwieback in den Mund, weil ihm aber der nicht gelegen ist, so nimmt er sein vierzehntägiges Händchen, und reißt ihn sich heraus. Halblachend darüber nimmt sie den Stöpsel und giebt ihm damit einen Schlag auf die Backen; sie dachte gar nicht an die Möglichkeit, daß ein vierzehntägiges Kind Schmerzen darüber empfinden könnte; er aber fieng an auf das heftigste zu schreien, so daß dieser Schrei seine Eingeweide dergestalt zerrüttete, daß er davon einen Bruch bekam, an dem er, so lange er lebte, viel litt. Wir wollen jetzt die Mutter selbst über dies Kind sprechen hören.

Was der griechische Künstler bei seinem Amor sich dachte, das war mein Kind; überall wurde die auf ihn gelenkte Aufmerksamkeit zur Bewunderung. Seine Gestalt,[155] seine Farbe, sein Gesicht, selbst sein geöffneter Mund, gaben den Augen, welche ihn sahen, ein wohlthuendes Gefühl. Seine Augenlieder waren äußerst fein, so wie seine ganze Haut; er hatte so herrliche blaue Augen, daß ich nie, weder vor noch nach seiner Zeit, ihnen ähnliche gesehen habe; schon die Lage dieser Augen, ihre Richtung, ihre Fülle, ihr edler Schnitt von Größe, Rundung und erhabener Fläche; dann ihr Glanz und ihre Farbe, welche ein mit Lichtstrahl vermischter Aether genannt werden konnte; dann der unendliche Abdruck und Ausdruck leidenschaftlicher Sprache, welche diese Augen annehmen konnten! Eben so gaben seine Gesichtszüge den Wiederklang seiner Empfindungen, und eben so sah man auf seinen Lippen schon die Worte schweben, welche er erst sagen wollte. Seine Haut, in den ersten Jahren seines Lebens, war[156] von einer Farbe, welche kein Pinsel erreicht, sie glänzte wie Silberstaub auf Rosenblättern, und gab seinem ganzen Körper einen rosigen Silberschimmer. So zart gebildet und geformt er war, so männlich edel war doch sein Gliederbau, und alle seine Körpertheile hatten ein Ebenmaas, welches dem Auge harmonisch war; alles war zierlich an ihm, aber nichts gezwungen. Seine Schultern, seine Hand, Bein und Fuß, und das ganze Ebenmaas seines Körpers waren zu seinem Haupt, wie das Ebenmaas einer schönen chorintischen Säule zu ihrem zierlichen Kapital. Sein Kopf ist mir unbeschreiblich; jede Bewegung desselben, jede Wendung seiner Augen, die Regung der Lippen, des Halses, waren ein eigner Ton aus der Harmonie der Schönheit. Schon sein Profil, im Schatten, war Darstellung griechischer Grazie. Selbst an seinem Ohr war[157] der Maasstab zierlicher Schönheit nicht vorüber gegangen. In Blicken, Mienen und Geberden, welche eben dem Maler am schwersten darzustellen sind, da war er am schönsten; besonders in den verschiedenen Lagen seines Kopfes, welche allemal den Ausdruck des höchsten Ideals hatten; und eben so ausdrucksvoll war er in den mancherlei Stellungen seines Körpers. Wenn er ohne Athem, nur als ein bloßes Bild gewesen wäre, so war er schon dem Schönheitskenner höchst reizend. Sein Haar war hellblond, und als es länger wuchs, schrieb ich einst einem Freunde davon: »Und wenn mein Karlchen läuft, und das Haar um seinen Nacken weht, so ists, als ob des Knaben Geist aus seinem Scheitel geschritten käme, so viel Ausdruck hat selbst sein Haar.«[158]

Als er älter ward, schlief er mit offenen Augen, welche sich wie im Entzücken aufwärts hin und her bewegten, und mit halbgeöffnetem Munde. Zwischen den glühenden Lippen ließ er vier der freundlichsten weißen Zahnspitzen sehen, dazu glühten durch das Athemholen die Wangen immer höher, und das Haar bebte vom starken Klopfen seines Herzens – das war ein Kopf! – Ich wußte niemals, ob ich ihn lieber wachend oder schlafend, froh oder traurig, müßig oder geschäftig, ernsthaft oder zärtlich sehen wollte, denn in allem war er etwas, welches ich sonst nie sah, und an ihm hab ich wahr gefunden, was Sokrates behauptet: daß ein schöner Körper der Spiegel einer schönen Seele sey, denn seine Seele, sein Geist und sein Körper waren ein einziges zusammengeflossenes Schön.[159]

Seines Erwachens erinnr' ich mich ewig; er war im Merz geboren, die Tage wurden immer länger und heller, und die Morgen schöner; da war es in seinem ersten halben Jahre, als er so herrlich erwachte, gemeiniglich geschahe dies des Morgens gegen fünf Uhr. Noch hielt er die Augen geschlossen, aber mit einer fröhlichen Bewegung streckt er sich aus, eine beseelte Heiterkeit verbreitete sich über sein Gesichtchen, der Mund bekam einen Ausdruck, wie zwischen Lächeln und Verwunderung; unter seinen Augenliedern sahe man den Tag seiner Seele, die Freude des Lebens dämmern, endlich blinzte er, indem er lächelte, und endlich schlug er die dem schönsten Maitag so ähnliche Augen auf. – So lag er ein paar Minuten lang, den Tag anlächelnd, und so strebte er denn der Mutterbrust entgegen. – Nie gieng er gern schlafen, und als er sprechen konnte,[160] weckte er mich auf, und sagte: Mama stehen Sie auf, Gott hat schon lange Tag gemacht. Die Morgengespräche, die er dann mit mir hielt, waren außerordentliche Blüten des Verstandes.

Schon in den ersten Monaten seines Daseyns verrieth er kindliche Zuneigung, und ich wurde ihm bald lieber, als alles was um ihn her war. Besonders, als ich, da sich seine Begriffe erweiterten, der Bildung seiner Verstandeskräfte mich annahm, bekam er eine recht leidenschaftliche Zuneigung für mich.

Er war von der lebhaftesten Einbildungskraft. Als er eben drei Jahr alt war, lag er eines Tages nach Tische schlummern; gewöhnlich mußte ich bei ihm sitzen, wenn er schlafen sollte, und ihm meine Hand lassen, sobald er aber schlief, schlich ich mich[161] davon; diesmal hatte er es bemerkt, und kam mir in das andere Zimmer nach geweint, ich las eben in den Werken des Herrn von Kleist. Mein Kleiner war ziemlich ungestümm, weil er im halben Schlafe war. Ey, sagte ich, Karlchen, wie unartig kömmst du herein, du sollst ja schlafen; komm einmal her, sieh was ich hier für ein hübsches Bild habe. Immer noch im Weinen kam er halb unwillig zu mir. Wenn du recht still bist, sagte ich, dann will ich dir das Bild zeigen; er wischte sich die Thränen ab, war aber noch verdrüßlich. Sieh, dies Buch ist voll schöner Lieder, die hat der Herr von Kleist gemacht, der war ein Dichter, weißt du was das ist? – Ja, antwortete er, der macht solche Gedichte wie die Großmama. – Gut, aber er war auch ein Offizier, weißt du was ein Offizier ist? – »Ja, sagte er, der trägt[162] einen Degen, und hat über Soldaten zu befehlen.« Recht, fuhr ich fort, nun höre weiter. Die Soldaten des Herrn von Kleist gehörten dem König von Preußen; wer ist das wohl, der König von Preußen? – Das ist unser König, Friedrich der Zweite. – Gut, nun will ich dir erzählen. Friedrich der Zweite hatte einsmals viele große Feinde, diese wollten sein Land einnehmen, und schickten ihre Heere mit Feuer und Schwerdt bewaffnet in sein Reich. Unser König aber blieb unerschrocken, und wehrte sich tapfer, er nahm seine Offiziere und Soldaten, gieng damit auf die Feinde los, haute mit den Säbeln auf sie ein, und schlug so viele todt, als er konnte. Ein solches Hauen und Todtschießen nennt man eine Bataille, und siehst du, eine solche ist hier auf dem Bilde vorgestellt; da stehen die Feinde, das waren Russen, mit großen Bärten, und hier stehen[163] Friedrichs Soldaten, die schießen und hauen sich mit den Russen herum; hier ist das Pferd, auf welchem Herr von Kleist saß. – Mein Kleiner sah es aufmerksam an – hier liegt der Herr von Kleist, die Feinde haben ihm von der rechten Hand drei Finger weggeschossen, nachher den rechten Arm, da nahm er den Kommandostab in die linke Hand; dann das rechte Bein, da fiel er vom Pferde, siehst du, hier liegt er neben dem Pferde .... Augenblicklich dreht sich mein Karl um, läuft davon, und ruft auf halbem Wege: Mama, Mama! halten Sie nur das Pferd, damit es nicht davon geht. Und so rannte er nach der Thür zu. Karl, wo willst du denn hin? Den Chirurgus holen – Kind, was soll denn der? Er soll dem armen Kleist die Finger, Hand und das Bein anheilen. – Du weißt ja nicht wo er wohnt. – »Die Leute werden es[164] mir schon sagen, lassen Sie mich nur gehn. – Der arme Kleist ist aber schon lange todt. – Todt! rief er und kam zurück; er soll aber nicht sterben, der Chirurgus wird ihn schon kuriren. Aber Kind! das ist ja nur ein Bild, die Geschichte mit dem Herrn von Kleist ist ja schon lange vorbei. Aber, rief er, da hauen sie sich ja alle noch, und hier liegt der Kleist, und hier steht sein Pferd; wenn das Pferd nur nicht davon geht. Wo sind denn die Russen, die den Kleist so zerschossen haben? Ich zeigte ihm einige Figuren, und sagte, dies wären die Russen; mit glühendem Zorn im Gesichte, läuft mein Knabe nach einer Thür, dreht mit dem schnellsten Eifer sich den Schlüssel heraus, und kommt und haut mit demselben auf die vermeinten Russen so tapfer ein, daß mir für das Bild angst und bange wird. Aber Kind, du schlägst mir ja das Bild[165] entzwei! Nein, Mama, ich haue nur die Russen todt, die den guten Kleist so zerschossen haben. Ich nahm ihm den Schlüssel weg, und sagte: Sey nur ruhig, der König von Preußen hat sie alle schon weggeschafft. Aber höre nun weiter, wie es dem armen Kleist gieng; als er so zerschossen da lag, kamen einige von seinen Soldaten, und trugen ihn weit weg von der Schlacht: hier lag er nun auf freiem Felde, in der Sonnenhitze, zerschossen und blutig. Da kamen wieder andere Feinde, das waren Kosaken, garstige wilde Menschen, mit großen Knebelbärten, die sahen ihn liegen, da fielen sie über ihn her, und zogen ihn nackend aus, und warfen dann den armen verwundeten Kleist an einen Sumpf. Er konnte sich nicht bewegen noch aufstehen, da er nur ein Bein hatte, und blieb also liegen, bis es Nacht ward. Da kamen von ungefähr[166] ein paar russische Husaren, die sahen ihn hülflos, wie er war, erbarmten sich seiner, ob sie gleich Feinde waren, legten ihn aufs Trockene, und machten neben ihm ein Feuer, daß er sich wärmen konnte; der eine nahm seinen Mantel und bedeckte ihn damit, ein andrer setzt ihm einen Hut auf; ein paar andre gaben ihm Brod und Wasser, und einer reichte ihm ein Achtgroschenstück. Der Herr von Kleist wollte dies Achtgroschenstück nicht nehmen, aber der gute Russe warf es ihm auf den Mantel, und ritt davon. – Hier sah mich mein Karlchen verwundert an, eine lächelnde Wehmuth zuckte auf seinen Lippen, und die Augen lachten halb, halb weinten sie: Das war vortrefflich von den Russen! rief er aus. Zeigen Sie mir doch den herrlichen Russen, der ihm das Geld gab. Ich zeigte ihm eine Figur, die er recht inbrünstig küßte und[167] anschaute; mit einmal rief er: aber Mama, lassen Sie mich nur geschwind gehen und den Chirurgus holen, sehen Sie nicht, der arme Kleist liegt ja noch immer ohne Hand und Fuß da, wenn nur das Pferd nicht davon läuft; damit flog er wieder nach der Thür hin. – Aber Kind, kannst du es denn nicht begreifen, daß das hier nur ein Papier ist, und keine wahrhaftige Schlacht? Fühle doch, hat es denn Fleisch und Wärme, wie du? Er fühlte es an, dann sagte er mit langsamer Stimme: Nein. Nun, sagt ich, da kann auch der Chirurgus nichts helfen; Kleist und seine Feinde sind schon todt. Todt! rief er, und das Pferd auch? – wohl, das Pferd auch. Nu, sagte er, wenn ich nur groß bin, dann will ich General werden, und dann will ich alle Russen todt hauen, zur Strafe, daß sie den lieben Kleist erschossen haben, aber die guten Russen,[168] die ihm den Mantel und das Geld gaben, die will ich recht beschenken.

Er hatte sich in den Namen General so verliebt, daß er immer am liebsten davon sprach, wie er einmal General werden wollte. Auch spielte er gern mit gemachten Spielsachen, allein blos damit er sie wieder entzwei machen konnte. Nicht einen Tag lang behielt er ein Stück ganz; und so viel solcher Tändeleien er hatte, so viel verdarb er auch; wenn ich ihn denn fragte, warum er es zerbrochen, sagte er: Liebe Mama, ich habe es nur darum zerbrochen, damit ich lernen will, wie es gemacht ist, ich mache alles wieder ganz, eben, wie es gewesen ist.

Er saß immer vor sich allein spielend, und ich mußte ihm indeß etwas erzählen. Wenn er unter seinen Spielsachen dasaß, so sah er nicht wie ein Vernichter, sondern wie ein zufriedener Herrscher aus, der eben über[169] die Glückseligkeit seines Reiches nachdenkt. Er sprach und that alles mit großer Lebhaftigkeit, immer war er fröhlich und lachte gern; wenn er lachte, und recht viel lachte, so öffneten sich seine herrlichen Augen immer mehr, und wurden durch diese frohe Bewegungen noch funkelnder und größer, als sonst. Dies war eine seltene Erscheinung, eben wie das Schlafen mit offenen Augen, da bei dergleichen Handlungen die Augen sich zu verkleinern und zu schließen pflegen. Sein Geist war so genau mit seinen Nerven und Muskeln im Einklang, daß ich gemeiniglich auf seinem Gesichte lesen konnte, was er sagen wollte. Sein Gedächtniß glich einem Spiegel, welcher alle Gegenstände sogleich auffaßt, eben so vortreflich war seine eigne Denkkraft: in seinem vierten Jahre konnte er mehr schon als allgemeine Dinge beurtheilen, und weil er das Gewöhnliche leicht weg[170] hatte, so forschte er unermüdet dem Schwerern nach. Selbst suchte er unaufhörlich seinen Verstand anzubauen, und wendete alle eine Kenntnisse auf das Herz an: das heißt er suchte sich aus allem selbst eine Nutzanwendung. Dabei blieb er immer lebhaft und heiter, niemals hab ich ihn finster oder störrisch gesehn. Alles stand ihm wohl an, sogar der Verdruß, welcher andere Gesichter sonst entstellt, sein Gesichtchen wurde nur lieblicher davon. Er hatte einen so gegenwärtigen Geist, daß er von allem, was er wußte, bei Gelegenheit die artigsten und drolligsten Anspielungen machte. So z.B. erinnere ich mich, daß ich eines Tages am Fenster stand, und indem ich vom Fenster zurückkehrte, sagt' ich: »Eben gieng die schöne K. vorbei, aber sie hat sich so verändert, daß ich sie kaum mehr erkannte.« Mein Karl, der gleich aufhorchte, wenn ich[171] sprach, blieb bei diesen Worten an der Thür stehen, zu der er schon hinaus wollte; o! rief er lachend, wenn sie nicht mehr schön ist, mag ich sie nicht mehr küssen, denn wenn die Mädchen nicht mehr schön sind, geht es ihnen wie unsern Eltern im Paradiese, da sie ihren Glanz verlohren hatten; wenn die Mädchen ihre Schönheit verloren haben, dann ist auch ihr Glanz weg, und das bloße Fleisch mag ich nicht küssen, und damit lief er lachend zur Thür hinaus. Solcher naiver Anspielungen hatte er täglich, nur ist mir ihr Zusammenhang entfallen.

Niemals hab ich durch ihn einen Kummer erlebt, niemals hat er mich durch Unarten gekränkt; auch nicht ein Schatten irgend einer niedrigen Eigenschaft lag in seiner Seele; alle seine Aeußerungen waren Großmuth, Verstand und Zärtlichkeit, eine einzige Uebereilung ausgenommen, die ich[172] jetzt erzählen will: Wer ihm sein Eigenthum absprechen wollte, der konnte ihn zum Zorn, ja bis zur Wuth reizen. Einst hatte er und sein Bruder jeder einen Apfel bekommen; der Aelteste hatte den seinigen bald gegessen, indeß der Kleine, auf der Erde sitzend, sich mit seinen Spielsachen so eifrig beschäftigt, daß er darüber seinen Apfel neben sich vergißt. Der Aelteste, um ihn zu necken, greift nach dem Apfel. Bruder, laß den Apfel liegen, sagt der Kleine. – Nein, antwortete der Aeltere, es ist mein Apfel. Nicht doch, antwortete Karl, weißt du denn nicht, du hast ja deinen schon gegessen. – Nein, antwortete der Aelteste, jetzt will ich ihn erst essen. Und er fährt wirklich mit dem Apfel nach dem Munde: Bruder, laß meinen Apfel liegen, schreit der Kleine; der Aelteste aber lacht, und beißt wirklich in den Apfel. Als dies Karl[173] sieht, überwältigte ihn der Eifer über dies Unrecht so sehr, daß er eine Gabel, die er in der Hand hatte, ihm gerade nach dem Kopf warf; der Wurf gerieth hart über den Augenknochen, und verwundete ihn. Nun kam der Aelteste zu mir, weinend und schreiend, und der kleine Rechthaber erschrocken hinter her: Liebe, beste, theuerste Mama, Bruder Wilhelm hat mich so geärgert! Wiewohl der Aelteste die Hauptschuld hatte, wurde Karl dennoch gestraft, doch war die Strafe nicht einmal nöthig, da ihm der Schmerz seines Bruders herzlich leid war: und ich bin gewiß, daß er, wenn er lang gelebt hätte, durch diesen Vorfall vor ähnlichen Uebereilungen gesichert gewesen wäre.

So sanft er von Natur war, so fest bestand er auf seinem Willen, jedoch nicht trotzig, sondern durch unermüdetes Bitten, mit den süßesten schmeichelhaftesten Geberden.[174] So heftig indeß sein Wille war, so mäßig war er im Genuß seiner Wünsche; er wollte sie nur versuchen und kosten, weil sie ihm neu schienen; seine starke Einbildungskraft machte ihm die Vorstellung derselben so reizend, daß er ein unwiderstehliches Verlangen darnach empfand; niemals aber war er in Befriedigung seiner Wünsche unmässig, nur die Begierde konnt er nicht zähmen. Er aß alles was ich ihm gab, und nie zeigte er Widerwillen gegen etwas, obwohl er einen feinen Gaumen hatte. Auch hatte er eine angenehme bescheidene Art zu essen. Noch seh ich ihn im Geiste mit seinem Butterbrod in der Hand auf dem Stuhl sitzen, mit der Ruhe und Genügsamkeit eines Philosophen, und noch höre ich die angenehmen Gespräche, die er dabei führte. Oft machte ich mir die Lust, wenn er um sein Vesperbrod bat, zu sagen, ich hätte nichts,[175] als Brod und Salz, blos um zu prüfen, ob auch sein Gaum sich gewöhnen wollte. O! sagte er denn, geben Sie mir nur Salz und Brod, wenn Sie mir es geben, schmeckt es mir doch süß. Ich gab es ihm, und er aß mit dem Wohlgeschmack einer königlichen Mahlzeit, indem er lächelnd dabei sagte: Salz und Brod, macht Wangen roth.

Freiwillig theilte er gern von dem Seinigen mit, und Allmosen geben, war die Freude seines Herzens. Er hatte gar keine List noch Falschheit, selbst nicht einmal im Scherz. Nie nahm er eine böse Gewohnheit an; niemals hat er ein einziges pöbelhaftes oder niedriges Wort nachgesprochen, und selbst in seinem höchsten Affekte sprach er das reinste und schönste Deutsch, als ob er es nach Regeln gelernt hätte. Ein Kind, welches gleich regelmäßig spricht, zeigt an, daß sein Verstand der deutlichsten Begriffe[176] fähig ist, und daß es einmal alles, worinn es unterwiesen wird, auf das vollkommenste lernen werde, denn sein reines Sprechen zeigt schon von der Vortreflichkeit seiner Urtheilskraft. Mütter sollten darauf halten, daß sich die Kinder zu keiner niedrigen und gemeinen Redensart gewöhnen, da jede schlechte Angewohnheit die Seelenkräfte zurückhält. Eben so sollte man auch die Kinder vor denjenigen sinnlichen Eindrücken bewahren, die ihre Einbildungskraft auf eine niedrige oder unanständige Weise beschäftigen. Früh sollte man ihre Augen und Ohren, welches die feinsten Sinne sind, auf edle Gegenstände aufmerksam zu machen suchen: z.B. auf Musik und Tanz, auf Gemälde, auf Blumen u. dgl. Die ersten Eindrücke des Kindes legen einen tiefen Grund in der Seele, und je nachdem man diese[177] wählt, werden sich die Begriffe des Kindes entwickeln.

Wenn ich ihm zuweilen etwas vorlas, rief er aus: O Mama! solche Bücher lern' ich auch machen, dann will ich alles eben so schreiben wie es da steht. Dieser Ausruf kam daher, daß er alles so stark und richtig empfand, daß es ihm vorkam, als könnte er es selbst machen. Schreiben und Lesen wollte er nicht lernen, da er nichts von mechanischen Unterweisungen vertragen konnte, sondern alles Gesprächs- und Spielweise lernen wollte. Ein Kind, mit großem Verstand und Gedächtnißgaben hat nicht nöthig, daß man es zu frühem und regelmäßigem Unterricht anhalte, denn wozu ein Kind von trägem Geist der Jahre bedarf, da sind einem lebhaften Kinde Monate genug; man lasse also einem solchen Kinde seine Spiele treiben, bis es von selbst Lust[178] zum Lernen bekömmt. Eh' man zum Unterricht schreitet, kann man auf mancherlei Weise mit dem Kinde lehrreiche Gespräche führen; Mütter sollen weder zu träge seyn, noch den Geist ihres Kindes zu geringschätzen, um mit demselben über alles zu sprechen, denn durch Gespräche empfängt es seine erste wahre Bildung, sie wirken mehr als die Regeln einer künstlichen Erziehung, denn sie klären die Begriffe unvermerkt auf. Er war so lebhaft, daß er unzähligemal fiel; allein wenn er gefallen war, so durfte er nicht weinen, sondern ich suchte gleich ihn zu zerstreuen und heiter zu machen, wodurch er bald in Uebung kam, daß er seine Schmerzen niemals achtete. Bei dieser Gelegenheit erinnr' ich mich, wie er mir einst von seiner Achtung und Liebe sowohl als von seiner Geistesgegenwart eine schwere und rührende Probe gab. Er fiel[179] von einer Treppe hinunter, und man bringt ihn mir, einem Sterbenden ähnlich, ganz mit Blute bedeckt. Er war nicht fähig zu stehen, seine Augen verdrehten sich als wollten sie brechen, dennoch faßte er seine letzte Denkkraft zusammen, um mir zu sagen: Liebe Mama! seyen Sie nicht böse, thun Sie mir nichts, ich kann nicht dafür. Mit diesen Worten sank er in Ohnmacht. Wer sieht nicht hieraus die Vortreflichkeit dieses Kindes, das bis zur Todesohnmacht sich mir mit Furcht und Liebe unterwerfend, nichts fühlte, als die Bangigkeit, daß ich böse auf ihn seyn möchte, ob ich gleich ihm niemals zürnte! Ich gab ihm warme Weinumschläge und legte ihn zu Bette. Sein Geist gab ihm schnell wieder Kräfte, denn anderthalb Stunden nachher war er wieder vollkommen sich selbst ähnlich, und kam zu mir.[180]

Er liebte mich mit Leidenschaft, ja bis zur Eifersucht. Einst, als er im vierten Jahre war, kam ein junger Herr zu uns, welcher mir bei jeder Gelegenheit die Hände küßte. Mein Karl sah ihn dabei jedesmal mit verdrossenen Augen an. Man ruft mich aus dem Zimmer, und als ich heraus gehe, folgt mein Kind, wie gewöhnlich, mir auf dem Fuße nach, der Fremde folgt uns auch. O! ruft mein Karlchen: mein Herr, bleiben Sie zurück, es schickt sich nicht, daß fremde Herrn meiner Mama nachgehen, es schickt sich auch nicht, daß Sie ihr immer die Hände küssen.

So lebhaft er war, so vorsichtig und verschwiegen konnte er doch da seyn, wo das Interesse andrer es erforderte. Wo Verstand nöthig war, da hatte er eine ungemeine Gegenwart des Geistes, wo es aber nur die äußern Sinne betraf, z.B. im Fallen, im[181] Spielzeugzerbrechen u. dgl., dabei hatte sein Herz nichts zu verantworten. Von seinem Mitleidsgefühl aus überzeugter Vernunft mag dies eine Probe seyn: In einer seiner Spielstunden, wo ich ihm wie gewöhnlich etwas erzählte, oder lehrte, wiederholte er die zehn Gebote, und als er an das fünfte kam, sagte er: Aber Mama, warum soll ich denn das fünfte Gebot lernen, ich werde doch in meinem Leben niemand todtschlagen! Dafür soll dich Gott bewahren, sagte ich, aber weißt du wohl, die Gabel, und das Auge deines Bruders? Aus einer solchen Uebereilung kann leicht ein Todtschlag entstehen. Auch kann man Todtschlag mit der Zunge begehen, nämlich, wenn man Böses von Andern spricht. Noch kann man auf eine andre Art Mord begehen, nämlich, wenn man unschuldige Thiere martert, die sich nicht wehren können. Aber, antwortete er, man[182] macht doch manche Thiere todt, als Hühner, Ochsen, Schaafe, und andere mehr. Diese, antwortete ich, sind einmal von Alters her zur Nahrung bestimmt, und ein schneller Tod ist ihnen keine Marter. Mama, da muß man ja auch wohl die Fliegen gleich todt schlagen, und nicht erst vorher martern? Ei freilich, mein Kind, auch nicht das kleinste Thier muß man quälen, denn es hat Empfindung und Leben, wie wir. Hier suchte Karl mit großen Augen seinen Bruder, und rief: Siehst du, Bruder, du hast mir nicht glauben wollen, du hast im vorigen Sommer die armen Fliegen so gemartert, ihnen erst ein Bein ausgerissen, dann die Flügel, und darnach hast du sie verschmachten lassen! Nein, Mama, das will ich in meinem Leben nicht thun, daß ich die armen Thiere so martre.[183]

Er trug das Gefühl des Anständigen in sich, dies lehrte ihn den feinsten Unterschied in Dingen machen, worüber andre Kinder erst belehrt werden müssen. Der wirkliche Anstand, die Höflichkeit, die zugleich vom Herzen und vom Verstand kömmt, und, weit entfernt, eins noch das andre zu beleidigen, stets darauf bedacht ist, sie zu erfreuen, dies zarte Gefühl des Schicklichen muß uns angeboren seyn, die Erziehung kann es ausbilden, aber sie vermag es nicht zu geben; und es giebt in allen Ständen vorzüglich begabte Seelen, welche nicht erst der Erziehung bedürfen, um sich mit Würde und Zierlichkeit zu betragen.

Wille und Denken meines Kindes waren mein, aber er ehrte auch meine Strafen, und glaubte fest an die Wahrheit meiner Vermahnungen; in allem was ich mit ihm vornahm, fühlte er, daß ich sein Bestes[184] wollte. Nur dann konnte ich wenig über ihn ausrichten, wenn er, wie oft geschah, im Gehen übler Laune war; dies aber rührte von einem Bruch her, der ihm das Gehen erschwerte. Ich verstand mich nicht darauf, und schalt den lieben Kleinen eigensinnig, wenn er blos vor Schmerzen ungeduldig war. Er ward beim Spazierengehen bald müde, und wollte getragen seyn. Wer ihn denn auf den Arm nahm, für den hätte er vor Dankbarkeit zerschmelzen mögen; er umschloß ihn mit seinem Aermchen, und liebkoste ihn den ganzen Weg über, wenn es auch das häßlichste Gesicht war, und fragte immer: ob er ihm auch nicht zu schwer würde?

Die Natur liebte er mit ganzer Seele. Wenn ich im Gehen mit ihm an eine grüne Stelle kam, da bat er mich: Ach Mama! lassen sie mich einen Augenblick niedersitzen, hier auf das herrliche grüne Gras. Wenn[185] er nun wieder aufstand, dann pflückte er ein Händchen voll Grünes, und steckte es sich in die Taschen; so machte er es bei allen grünen Stellen, an denen wir vorübergingen, bis wir in den Thiergarten kamen, da ging es an ein Bauen und Pflanzen, und Garten einzäunen, er wäre lieber gar da geblieben. Vor allen liebte er die hohen gewölbten Laubgänge, deren Endung sich in tiefes Dunkel verlor, da rief er aus: Ach Mama, hier müssen wir hinein, hier lassen Sie uns bleiben! Er war der angenehmste Spaziergänger. Alles konnt ich mit ihm reden, was auch mein Herz bei den Schönheiten der Natur empfand, er verstand mich vollkommen; nie hat ein Wesen mehr Einklang mit dem meinigen gehabt, als dieses junge engelsschöne Kind; sein Gefühl war so fein und richtig, daß er von allem sogleich urtheilen konnte, daher waren seine Reden nichts weniger als[186] kindisch, vielmehr machten die lebhaften Vorstellungen seines Geistes sie zu etwas, das ich noch gar nicht gehört hatte, ob er gleich alles so leicht hin sprach, als dürfte er es nicht erst denken.

Auch den gestirnten Himmel sah er oft mit angenehmer Betrachtung an; den herrlichsten Begriff vom Göttlichen geben die Sterne, sie sind das Licht des Geistes. Junge Gemüther, die sich mit ihnen bekannt machen, werden leicht und vorzüglich durch sie ihre Kenntnisse vermehren, und bald wird sich ihr Geist daran gewöhnen, diese Erde nicht als den Sitz seiner ganzen Bestimmung zur Glückseligkeit zu betrachten. Gern sprach mein Karl von dem Schöpfer der leuchtenden Welten, und seine Seele erhob sich mit den ewigen Lichtquellen über ihm.

Oft mußte ich ihn auf den Schoos nehmen, und ihm ein Lied singen, denn er liebte[187] Musik und Gesang mit Leidenschaft. Auch Erzählungen hörte er gern, aber immer bat er mich: Erzählen Sie mir nichts Lustiges, Mama, etwas Rührendes und Trauriges, das hör ich gern. Wenn ich denn eine solche Erzählung anfing, da lauschte er nur, immer fortspielend, so wie aber das Interesse der Erzählung stieg, ward auch seine Unruhe sichtbarer; er stand dann vom Spielen auf, lehnte sich an meine Kniee, und sah mir auf den Mund; kam dann das Traurigste der Geschichte, so küßte er meine Hand, und rief: Warten Sie einen Augenblick, Mama! dann verbarg er seinen Kopf in meinen Schoos, und nach einigem Stillschweigen richtete er sich auf, und sagte, indem ihm noch die helle Thräne, die er vor mir verbergen wollte, im Auge stand: Nun Mama, nun erzählen Sie weiter.[188]

Einen Tag wie den andern blieb er in beständiger Thätigkeit, doch machte er sich nie mit gemeinen Dingen, noch mit den Handlungen andrer zu schaffen. Auch wenn er nichts that, ließ es ihn geschäftig, denn man konnte es ihm ansehen, daß er dachte. Als ich eine Tochter gebar, stellte er sich oft vor ihre Wiege, und nahm sie in angenehme Betrachtung, zuweilen wiegte er dieselbe mit einer recht lebhaften Freude. Als sie nach sieben Monden starb, fuhr er mit zu ihrer Beerdigung, allein den Sarg wollte er nicht einsenken sehen, wandte sein Gesicht weg, und begehrte nach Hause, indem er sagte: daß er nimmermehr sterben möchte.

In der Zärtlichkeit war er ein Schwärmer; es war sein eifrigster Wunsch, wir möchten beide, er und ich, auf eine wüste Insel verschlagen werden; die Vorstellung davon war ihm so angenehm, daß er sie[189] mit in das Grab genommen. Nichts war rührender, zärter, poetischer, als seine Liebe zu mir, die ganz ausschließend war, ohne daß er jedoch gegen Andre sich deswegen lieblos oder trotzig bewiesen. Sein ganzes Wesen wurde von einem einzigen Geist, einem Hauch der ewigen Liebe beseelt und regiert, zu dem seine himmlische Schönheit in der vollkommensten Harmonie stand.

Und er wurde krank. Es war am dritten Juni, da er von einem Spaziergang ermüdet nach Hause kam, in der Hand einen Busch Klockrosen, welche er mir mit den Worten überreichte: Da, Mama, ich bin recht müde. »Er gieng alsbald zu Bette. Den Tag darauf schien ihm wohl zu seyn, doch legte er sich wider seine Gewohnheit nach Tisch schlafen. Den ganzen Tag über empfand ich eine dumpfe Unruhe, die mich nirgend dauern ließ; ich gieng mit[190] meinem Aeltesten vor das Stadtthor, hier nahm meine Unruhe bis zur Bangigkeit zu, ohne daß ich eine Ursach dazu wußte. Ich kehrte um, und fand meinen Kleinen im Bette; er war mit seinem Vater aus Verlangen nach mir ausgegangen, hatte mich nicht gefunden, klagte sich bald müde, und da er mich zu Hause nicht fand, gieng er schlafen. Sobald er meine Stimme hörte, erwachte er und klagte über Kopfweh. Er glühte, ich aber ahndete nichts als etwa ein Fieber, wie er schon einmal gehabt hatte. Morgens darauf stand er erst um zehn Uhr auf, legte sich aber bald wieder zu Bette, und blieb bis Dienstag Mittag liegen; als wir zu Tisch gehen wollten, fuhr er eilend aus dem Bette und versuchte sich anzukleiden. Nein! rief er, es geht nicht: damit legt er das Kleidungsstück hin, und nie hat er wieder dergleichen angezogen.[191] Am Mittwoch zeigten sich Flecken, Vorboten der Blattern; ich ahndete nichts gefährliches, sondern freuete mich. Ach Karlchen! rief ich, du wirst die Blattern kriegen. Es ist gut, daß du sie früh bekömmst. So? sagt er, wie sehn denn die Blattern aus? Ich gab ihm den Spiegel; als er die rothen Flecken in seinem Gesicht erblickte, drehte er den Kopf mit Widerwillen weg, und sagte: Geschwind legen Sie den Spiegel weg, ich sehe häßlich aus. Von da an verbarg er sein Gesicht an meinem Hals, sobald jemand kam. Einen Arzt wollt er nicht, und Medizin war ihm durchaus nicht beizubringen: er klagte Durst, man gab ihm Arznei, die wie Wasser aussah, allein er hatte es am Geschmack, und trank sie nicht. Die ersten vier Tage der Krankheit spielte er, als wäre er gar nicht krank, am fünften Tag aber, da sich die Pocken[192] ansetzten, ward er launisch. Ich durfte von seinem Bette nicht weichen, und selbst im Schlaf ihm meine Hand nicht entziehen, wenn es auch noch so leise geschah, wachte er davon auf, und litt es nicht. Von nun an hatte er keine Ruhe mehr, in keinem Bette wollte er bleiben, und auf keiner Stelle, theilte Befehle über Befehle aus, und gab sogar Acht darauf, ob seine Befehle auch schnell genug vollzogen würden; geschahe da seiner Meynung nach nicht, so wollte er heraus und selbst antreiben, doch war er in allem, was er sagte, verständig. Drei Tage lang lag er blind, und seine Ungeduld nahm äußerst zu; er liebte den Tag und die Sonne so sehr, und in den Frühlingsmonaten vor seiner Krankheit pflegte er alle Morgen zu beten: Lieber Gott, laß doch heut recht lange lange Tag bleiben, laß doch recht lange die schöne Sonne scheinen! Jetzt lag er[193] blind, und es ist leicht zu denken, wie ein feuriger Freund des Lichtes in solchem Zustand ungeduldig werden mußte. Oft fragte er mich: Mama, ist schon die Sonne da? Ists nun recht hell? Scheint noch der Tag? Abend muß es ja nicht werden, Gott muß Tag lassen bis ich wieder ausgehen kann.

Seine Unruhen vermehrten ich, und die Pocken bekamen ein wunderliches Ansehen von allerlei Farbe, kleine und große, einige welche abtrockneten, andre welche nebenbei aufsproßten, die mehrsten aber waren in der Mitte tief eingesenkt. Ich verstand mich nicht darauf, und niemand sagte es mir, daß es böse Pocken wären, so war ich um so ruhiger, da der Geist des Kindes so munter war. Nach dreitägiger Blindheit hatte ich ihn auf meinem Schooße ruhen, und redete allerlei mit ihm, wovon er am liebsten hörte. Ich versprach ihm, wenn er wieder[194] gesund wäre, recht viel nach Monbijou zu gehen, und nach dem Thiergarten. Monbijou liebte er vorzüglich wegen des Säulentempels und der dunklen Hecken die sich damals am Eingange befanden. Indem tritt die Magd herein, und sagt: Sehen Sie doch Karlchen, ich habe einen Hirsch in der Hand. – Seine ganze Neugier ward rege, und aus Eifer das Spielzeug zu sehn, welches die Magd ihm brachte, riß er die verschlossenen Augen auf, und sah hin; mir ward unaussprechlich wohl dabei. Ach Karlchen! rief ich, seh ich deine lieben Augen wieder! Gott wie freu' ich mich, freust du dich nicht auch, mein liebes Kind? Ja, sagte er mit mattem Lächeln. Aber, fragt ich, kennst du denn auch noch alles, was du so lange her nicht gesehen hast? Was ist denn das? Ernsthaft antwortete er: mein Tisch. – Was das? – der Ofen. – Aber kennst du[195] auch, wer bin ich denn? Hier sah er mich mit sonderbarem Ernst an, als wollte er damit sagen: Wie kannst du doch so fragen; da ich dich ja niemals verkannt habe? und nach einem kleinen Schweigen dreht er seinen Kopf auf die andere Seite, und sagte: Meine Mutter. Von nun an hatte er immer weniger Schlaf und die Unruhen nahmen zu. In der Nacht vom zehnten Tage schrie er unaufhörlich über Nadelstiche, ob er gleich keine Nadel an sich trug, und klagte Hunger. Ich hatte ihm nichts in der Nacht zu geben, als einigen Julep, wofür er mir herzlich dankte, und ihn mit großem Wohlgeschmacke aß, darauf schlief er ein bis Morgens um sieben Uhr. Sobald er erwachte, begehrte er etwas zu genießen, ich gab ihm Thee und Biskuit. Er trank und aß mit einem Appetit und einer Munterkeit, als ob er gesund wäre; wie freute sich mein Herz![196] Als er gefrühstückt hatte, bat er um Spielzeug, ich fragte ihn, was er für Spielzeug wollte? Hammer und Nägel, und den bretternen Kasten, war seine Antwort. Es wurde ihm gegeben, und er hämmerte eine halbe Stunde lang mit vielem Eifer. Nun war er müde, und begehrte in einem andern Bette zu schlafen; gleich darauf ward er an den Ohren blau, ich dachte es wäre Frost, und ahndete nicht, daß es der allmählich um sich greifende Schlagfluß war. Matt schloß er die Augen, und verlangte von mir getragen zu seyn, ich trug ihn eine Zeitlang, und als ich mich niedersetzte, schien er zu schlummern. Seine Ohren wurden immer blauer, er ward unruhig, und sagte: Tragen Sie mich, Mama. Lieber Karl! sagt' ich, jetzt kann ich dich nicht tragen, du bist schwer; sieh einmal, da ha ich ein Buch mit einem Bilde. Er sah ein paar Augenblicke darnach hin,[197] sagte nichts, und schien wieder einzuschlummern, und zwar, seiner Gewohnheit nach, mit offenen Augen, die sich hin und her bewegten. Ich las noch eine Weile fort, er bewegte sich unruhig. Liege doch still, liebes Kind, sagt' ich, du liegst ja auf meinem Schoos. Sogleich lag er still, und schien fester zu schlummern. Ich sah nach ihm hin, sein ganzes Gesicht war blau geworden, obgleich seine Augen keine Veränderung zeigten. Mein Gott! rief ich meiner Mutter zu, welche eben gegenwärtig war, dem Kinde muß kalt seyn, wenn er nur zu Bett wollte, er wird ganz blau im Gesicht. Ach! antwortete sie, wenn das nur nichts Schlimmes bedeutet, es ist heut der eilfte Tag, das ist ein gefährlicher Tag. Ein gefährlicher Tag! rief ich voll Entsetzen. Karlchen! Karlchen! – O Gott! Er konnte mir nicht mehr antworten. Er bewegte[198] nur den Kopf, zum Zeichen, daß er mich hörte; ich legte ihn in das Bett, sein linker Arm war gelähmt, den rechten bewegte er immer auf und ab, als ob er damit arbeiten oder jemand winken wollte. Ich konnte sein Herz nicht brechen sehen, und gieng in ein anderes Zimmer; als er meine Stimme nicht mehr vernahm, hat er noch einmal die möglichsten Kräfte angestrengt, um einen Laut von sich zu geben, und – so ist er verschieden.

Er starb, vier Jahr und drei Monat alt, Mittags gegen eilf Uhr. Seine herrlichen Augen wollten sich nicht schließen, sie blieben offen und hell, leuchtend und schön, wie sie im Leben gewesen waren, bis zu Sonnenuntergang. Da erst brachen die Lichter, welche das erfreuende Licht meines Lebens gewesen waren.

Quelle:
[Klencke, Karoline von]: Leben und Romantische Dichtungen der Tochter der Karschin. Als Denkmal kindlicher Liebe herausgegeben von Helmina, Frankfurt a. M. 1805, S. 152-199.
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