13.

[54] Diese fünf Jahre vergiengen in einem regelmäßig geordneten Unterricht. Des Morgens um sechs Uhr wurde aufgestanden, um sieben mußten die Kinder in der Klasse seyn. Hier wurde geschrieben, gerechnet, Geographie studirt, die Bibel gelesen, die Geschichte gelehrt, die Grammatik studirt und dreihundert französische Vokabeln aufgegeben.[54] Alle diese Studien waren so eingerichtet, daß sie mit Ablauf des Jahres endigten, wo sie dann im neuen Jahre unverändert wieder ihren Fortgang nahmen, so daß jedes Jahr eine Wiederholung des vorigen war. Selbst die französischen Vokabeln giengen nicht weiter. Heut zu Tage mag diese Methode lächerlich dünken, gründlich aber war sie gewiß. Ich kenne wenig junge deutsche Frauen, welche die Regeln ihrer Sprache gut verstünden, die in dieser Unterrichtsanstalt auf das reinste den Kindern gezeigt wurden. Wenige sind mit der Chronologie der Geschichte, der Geographie so bekannt wie meine Mutter, eben weil würdige und ernsthafte Lehrer sie nach einer sehr sytematischen, aber nicht weniger gründlichen Methode unterrichtet hatten. Dem ungeachtet wünschte der feurige Geist meiner Mutter mehr Nahrung, und nach einigen Jahren[55] war ihr das Einerley der Lehrstunden höchst ermüdend. Sie war beinahe die Einzige, welche sich im folgenden Jahre erinnerte, was im vorigen gesagt worden war, und sie hatte die Freude, sich allen ihren Kameraden als Muster vorgestellt zu sehen. Dies dankte sie sowohl ihrer Aufmerksamkeit und Begierde, als ihrem von Natur so glücklichen Gedächtnisse. Doch wurde ihr dies Vergnügen auf eine andere Weise bald vermindert. Meine Großmutter hatte einen Bruder zu sich genommen, der sich in kurzem eine solche Macht über sie herausnahm, daß er der Herr ihrer Handlungen und ihres Vermögens war. Dieser konnte keine Ausgabe dulden, die nicht für ihn war. Er haßte das Kind seiner Schwester, weil er sah, daß sie ihm Abbruch that, und behandelte die Kleine mit großer Härte und fast raffinirter Grausamkeit. Es war Sitte,[56] der Vorsteherin der Pension allerlei kleine Geschenke und ein Gewisses an Geld bei einigen Festen zu geben; eben so hatten die Kinder Taschengeld, das zu kleinen Bequemlichkeiten des Lebens angewandt wurde. Dies alles hatte die kleine Karschin von ihrer Mutter gehabt, und durch den Einfluß des Onkels wurde es ihr genommen. Die Vorsteherin der Pension wollte hierunter nicht leiden, und wollte doch auch die Kleine nicht von sich lassen, die so geschickt, so lernbegierig, und zugleich auch so gefällig war. Sie ließ ihr also, statt ihr zu Liebe die Geschenke gern zu missen, keine Feyerstunde mehr, sondern zwang sie zu arbeiten, indeß die andern Kinder im Fragen spielten und dabei Früchte aßen, welche sie denselben austheilen ließ. Bei einer Oehllampe, in einem stillem Zimmer, saß das gute Kind des Abends, strickte schwarzseidene Strümpfe[57] nach den feinsten Mustern, stopfte Kanten, nähte aus, oder verfertigte Hemden von der feinsten holländischen Leinwand; sie weinte wohl eine Thräne dabei, und seufzte, wenn sie durch die Fenster das Geschrei und die Lustigkeit der andern Kinder im Grünen mit anhörte, aber da sie eben so sanft duldend als feurig war, murrte sie nicht, sondern begegnete der tyrannischen Frau mit kindlicher Ergebung. Die Kost in diesem Hause war gesund für starke Kinder, die sich Bewegung machten, aber für zartgebaute Wesen, wie meine Mutter, und bei einer so mühsamen und unabläßigen Arbeit, war sie es nicht, und so legte diese Lebensart den ersten Grund zur künftigen Zerrüttung ihre Gesundheit. Die Wochentage alle vergiengen so, und jeder ablaufende ließ ihr zum Trost die Hoffnung des Sonntags. Am Sonntag gieng sie in die Kirche, sodann streifte sie[58] in Berlin umher, zu ihrer Mutter, oder wenn sie diese nicht fand, zu den Bekannten, wo sie sie anzutreffen glaubte. Hier blieb sie zu Tisch, und war nachher gewöhnlich sich selbst überlassen. Sie gieng sodann im Garten träumen und nachsinnen, und ergötzte sich still an der Natur. Im Winter las sie, und machte sich gewöhnlich gar wenig mit den Menschen um sie her zu schaffen. Ihrer Bescheidenheit halber, und der naiven Antworten, die sie gab, hatten sie alle Leute gern. Es war in ihrer Erziehungsanstalt ein Geist der Ordnung und Sittsamkeit, bei welchem selbst die dürftige Kleidung der kleinen Karschin ehrbar und anständig erschien.

Zu dieser Zeit kam Gleim nach Berlin, der feurige Sänger Friedrich des Zweyten; der Beschützer der Muse der Karschin; die Hoffnung seiner Freunde; der Unterstützer des hülflosen Talents. Die kleine[59] Karschin wurde durch seine Gegenwart zu ihrem ersten Gedicht begeistert, es möge hier seinen Platz finden.


An den


Herrn Kanonikus Gleim,


da er aus Berlin reisen wollte.


Angenehmer Lieder Sänger,

Theurer Gleim! ach eile nicht

So von hinnen: bleibe länger,

Warte, bis man Trauben bricht.


Bis Dein Amor junger Reben

Blut, in Bachus Becher drückt,

Ihn gefüllet Dir zu geben

Und zu Liedern Dich entzückt.
[60]

Lieder, feurig, tändelnd, leichte,

Frey, und lieblich sängest Du

Bis Du taumeltest; dann reichte

Amor mir den Becher zu.


Und ich zög ein himmlisch Feuer

Mit dem Göttertrank in mich;

Schnell ergriff ich dann die Leyer

Stimmte drauf ein Lied für Dich!


Das so silbern wär' am Klange

Wie die zarten Schmeicheley'n

Deines Gressets, der itzt lange

Von Dir mußte ferne seyn.


Es ertönte Deinen Ohren

Hoch! wie Deines Ruhmes Flug,

Der die Frau, die mich geboren

Gütig zum Parnaß einst trug.
[61]

Lieber Gleim, um dieses Singen

Bleibe noch. Nimm dann mein Lied

Mit auf Deines Ruhmes Schwingen,

Wo es an die Sterne flieht!


Die Reinheit der Sprache, die Harmonie des Baues, und die gewissenhafte Gleichheit der Reimvokalen in diesem Liede eines dreizehnjährigen Mädchens, sind nicht so wunderbar, als die Ideen von Amor und Bachus, deren Spiel über das Alter und die Begriffe eines so jungen Wesens geht. Gleim hat dies Gedicht sehr kalt empfangen, da er nie glauben wollte, es sey von ihr selbst. Hier ist ein anderer Vers aus einem zweiten ihrer Gedichte an Gleim:


O, ich fühle schon die Wonne

Deines Liedes, sehe schon, wie schön

Es den Prinzen malt: die Sonne

Läßt uns so die Pracht der jungen Blumen sehn!
[62]

Ihr drittes Gedicht war ein Liebesgedicht in acht Versen, sie nannte es Sonnet.


*


Wenn, schöne Lalage, Dein Purpurmund mir lacht,

Dann acht' ich nicht der jüngsten Rosen Pracht;

Sie muß ihm noch an Schönheit weichen.

Ihm ist nicht Götterkost, nicht Nektar zu vergleichen.

Noch süßer ist sein Kuß! O, laß mich, Lalage!

Daß ich vor Lust dahin an Deinen Lippen sterbe,

Dann seufzt die Nachwelt, daß für sie der Weg so herbe,

Für mich so schön zum Grabe geh.


Wie haucht nicht hier der Liebe süßeste, zarteste Glut? Was mußte es für ein Herz[63] seyn, das schon so früh die Ahndung der innigsten Liebe hatte, und wie beseelt mußte die Phantasie seyn, die schon in so junger Entwickelung Worte für eine solche Empfindung fand?

Wir haben eben die Kleine beobachtet, wie sie zu gleicher Zeit im Drucke der Tyrannei ihrer Meisterin, im Erlernen der künstlichsten Handarbeiten, im steifen Mechanismus eines unabläßig gleichen Unterrichts, und im eignen stillen Wirken ihrer jungen Phantasie lebte. Es mag hier noch seine Stelle finden, daß sie so zart verschämt und keusch in ihrem geheimsten Denken war, daß sie sich nie ohne Halstuch im Spiegel ansehen wollte. Die Natur hatte ihr eine schöne Stimme gegeben, so daß sie bei der Arbeit sang; im Fenster, ihr gegenüber, hing eine Nachtigall, mit dieser sang sie gewöhnlich zugleich, welche ihr, wie ein freundlicher Wiederhall,[64] Antwort gab, und mit ihr in Höhe und Mannigfaltigkeit der Töne wetteiferte. Dies harmonische Schwärmen, welches eine zweite Sprache ihres poetischen Gemüths war, hatte die Macht, ihr den Druck der Sklaverey zu versüßen. Ueberall in ihrer Einsamkeit waren die süßesten und reinsten Ideen um sie her, wie Engelsgestalten. Sie hat mir oft erzählt: sie hätte an den Wänden in den Vertiefungen der Mauer, und da wo die Farbe ungleich war, sich lauter leichte liebliche Engelsköpfchen mit bunten zarten Flügeln und goldnen Locken bilden sehen; die alle einem Kinde geglichen, welches sie in ihrem sechsundzwanzigsten Jahre geboren. Diese liebliche Umgebung aber verschwand in ihrem sechzehnten Jahre, als die Menschen anfingen sie zu hart zu verfolgen und zu quälen.

Ihre Verschämtheit, und das eben durch[65] sie noch verfeinerte Gefühl des Stolzes in ihrer Brust wurde schon dadurch beleidigt, daß ihre Mutter sie oft mit Briefen und Versen in die Häuser ihrer Bekannten, zu Männern sowohl als zu Frauen schickte. Die Karschin war so ganz hingenommen von ihrem dichterischen Geist, so ganz berauscht von dem Lob das ihr zuströmte, und auf eine so schnelle Weise vom Elend zu einem glänzenden Zustand übergeschritten, daß ihr inneres Gefühl des Schicklichen, welches ohnehin nicht durch Erziehung ausgebildet worden, durchaus keinen Einfluß auf ihre Handlungen hatte, und bei allem was sie unternahm, von ihr nicht in Rücksicht gezogen wurde. Eines Tages schickte sie ihre Tochter mit einem Gedichte auf die Vermählung der Prinzeß Heinrich in Schönhausen. Die Kleine mußte allein, und zu Fuß hingehn, ermattet und lechzend nach[66] Erquickung kam sie an; unbekannt mit aller Etikette, und sich zur königlichen Tafel, wo die Herrschaften zum Souper saßen, in aller Zuversicht durch die Zuschauer drängend, die das Kind durchließen. An der Tafel erkannte sie verschiedene Herrschaften, zu welchen sie sonst ihre Mutter begleitet, und nahte sich dem Prinzen Wilhelm von Braunschweig, ein schöner sanfter Jüngling, zu dem sie das meiste Zutrauen hatte. Wollten Ihro Hoheit, sagte sie, dies Gedicht wohl der Braut überreichen? Ey mein Kind, sind Sie das? sagte der Prinz der sie erkannte. Ein Gedicht von der Karschin! die Tochter der Karschin! sagte er laut, und die Kleine mußte nun die Runde am Tisch machen, und wurde geliebkost. Sie war ganz erstaunt und gerührt von der Güte der hohen Gäste, und ihr Auge labte sich an der schönen und reichen Pracht ihres Putzes,[67] und an der Anordnung der Tafel. Sie beantwortete alle Fragen, die ihr gemacht wurden, mit so naiver Anmuth als kluger Bescheidenheit. Ach aber sie war müde, durstig, ungegessen, und die feinsten und auserlesensten Früchte und Zuckerbäckereien, mit Blumen und flimmernden Konditoraufsätzen vermischt, prangten ihr in goldnen Schüsseln entgegen, dufteten ihr mit den lockendsten Gerüchen zu, und ihre lechzende Lippen wagten nicht um eine Erquickung zu bitten! Das Gedicht wurde gelobt; die Tafel aufgehoben; es ging zum Tanz, die Kleine war vergessen und wurde vom Wirbel der Zuschauer mit in den Tanzsaal hineingezogen. Hier entfernte sich nach dem Fackeltanz die königliche Familie und der Hof durch eine Nebenthür, die Lichter erloschen schnell, die Zuschauer eilten fort so gut sie konnten, und die Kleine Karschin, die das Gedränge fürchtete,[68] fand sich plötzlich allein im finstern Saal. Sie weinte nicht, sie hoffte lange es würde jemand mit Licht kommen. Endlich wird alles still im Schlosse, es ist über zwei Uhr Morgens. Sie wagt sich aus dem Saal, und kömmt in einen Korridor, wo einiges schwaches Licht durch die Säulen von den Treppen fiel. Endlich Geräusch, Glanz! Tritte! Prinz Wilhelm von Braunschweig kömmt von zwei Bedienten mit Armleuchtern geleitet die Treppe hinunter. Die Kleine nahte sich ihm, er sieht sie. Ey liebe Kleine! Woher so spät im Schloß? Sie erklärte es ihm, und durch seinen sanften Blick aufgemuntert sagte sie ihm, wie sie müde, hungrig ohne Obdach sey: Arme Kind! doch da kann Rath werden. Er nimmt sie bey der Hand, und ergreift den Armleuchter, den der eine Bediente trug: Geht zu meiner Schwester Kammerfrauen,[69] pocht sie aus den Schlaf, und sagt: ich brächte ihnen einen Gast, sie sollten für Mamsell Sorge tragen; und der Koch, er soll Essen heraufbringen, geht zu Mamsell *** das ist noch die gütlichste. Indeß der Bediente vorangeht, geleitet der Prinz das Kind die langen Gänge hinunter; an der Thür beugte er sich lieb und lächelnd zu ihr, und küßte sie. »Gute Nacht Kleine, nun sollen Sie schon wohl schlafen!« Indeß geht die Thür auf, die Kammerfrau kömmt und bewillkommt die Kleine. Der Koch schickt ein halbes Huhn und Wein herauf; es wird gegessen, ausgekleidet, und vor lauter Freude ein Nachtlager gefunden zu haben, nicht geschlafen. Am Morgen ist die Kammerfrau geschäftig um die Kleine, friert sie, kleidet sie an, läßt ihr Schokolate bringen, und sie wird mit mehrern Personen nach Berlin in einer Kutsche geschickt.[70] Nie hat sie die Lieblichkeit und den Kuß des schönen Prinzen vergessen, und ich hörte immer gern von ihr diese Geschichte, die ich ihr nicht so nacherzählen kann.

Quelle:
[Klencke, Karoline von]: Leben und Romantische Dichtungen der Tochter der Karschin. Als Denkmal kindlicher Liebe herausgegeben von Helmina, Frankfurt a. M. 1805, S. 54-71.
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