Das Lebensalter des Anzugs

[13] Die Geburt: Mehrtägige, mühselige, zeitraubende Besuche bei S.M. dem Schneider. Ständiger Zank mit dem Zuschneider, mit dem Rayon-Chef. Der Herr Chef befiehlt schräge Taschen, scharf auf Taille. Du liebst keine schrägen Taschen und hast eine ausgesprochene Vorliebe für leger sitzende Sachen. Du raffst allen Mut zusammen und äußerst so leichthin schüchtern eine Bemerkung. Achselzuckende Verachtung ist die einzige Antwort. »Das ist Mode, Herr.« – Und resigniert fügt man sich in sein Schicksal, wenn man nicht einer jener Gewaltigen ist, die selbsttätig über ihre Mode bestimmen. In diesem Falle lauschen Chef und Zuschneider in aufmerksamer Verehrung den neuen Ideen.

Die Hochzeit: Endlich der Tag, an dem der fertige Anzug kommt. Besser: kommen sollte, denn selbstverständlich kommt er nicht. Du sitzt im tiefsten Decolleté – denn du willst das neue Kleidungsstück natürlich spazieren führen – stürzest jeden Moment ans Fenster und ans Telephon – es kommt nichts. Du verlierst jedes Interesse an dem sehnsüchtig erwarteten Kleide – gehst resigniert essen, der Abend ist dir doch verdorben.

Die Flitterwochen: Sie dauern noch nicht 8 Tage. Mit größter Energie bemüht man sich, die allmählich zutage tretenden Fehler durch harmlose Gründe zu motivieren. Man sonnt sich in dem Glück, nicht mehr zum Schneider zu brauchen, und zieht es lieber vor, zeitlebens mit dem »Fehler« umherzugehen.


Das Lebensalter des Anzugs

Nach den Flitterwochen kommt die Zeit der gegenseitigen Gewöhnung, die über kurz oder lang nach vielem Zank und unliebsamen Vorkommnissen zur Trennung führt. Dann kommt der Mann, »dem eine Postkarte genügt«, und ersteht die Ruine für 3 Mark.[14]

Ein gut gearbeiteter Anzug darf nie »neu« aussehen. Man darf ihm nie sein Alter ansehen. Der Fabrikanzug windet sich in kühnen Linien um die Schaufensterpuppe, strahlt in messerscharfen Falten. Er ist zu schön. Auf der Puppe. Man darf ihn nur nicht herunternehmen. Beileibe nicht, dann steht völlige Auflösung bevor.[15]

Ein Schauspieler, der auf der Bühne heute einen gemusterten Sakko trägt, kann unmöglich im nächsten Stück den gleichen Anzug wieder tragen. Im Badeort auf der Promenade kann man nicht tagelang in dem gleichen Anzüge umherlaufen. Das Alter des Anzugs selbst ist eine oder zwei Saisons. Für sehr garderobekräftige Herren eventuell auch drei Saisons. Namentlich, wenn es sich um die zum eisernen Bestände gehörigen und selten getragenen blauen oder schwarzen Anzüge handelt.

Das Lebensalter des Anzugs ist stark abhängig von äußeren Beeinflussungen seines Besitzers. Schon mancher Anzug starb vor der Zeit, weil die Freunde ihn nicht goutierten. Es brauchen nicht immer Einflüsse zu sein, oft genügt auch die Einbildung. Einer, den ich kenne, machte eine Wette: er wollte während seiner Reise nach Neuyork und der Fahrten im nordamerikanischen Gebiet immer denselben Sakko tragen, tagaus, tagein, und behauptete, wenn er nach seiner Rückkehr, ohne sich umzuziehen, sogleich in den Klub käme, würde dem vielgereisten Sakko niemand seine Erlebnisse ansehen.


Das Lebensalter des Anzugs

Reinigen und aufbügeln war ihm erlaubt. Als er an einem Abend in das Spielzimmer stürzte, rief er so gleich, er habe verloren, er sähe entsetzlich aus und wolle sofort verschwinden. Wir sahen ihn kritisch an – und kein Fehl zu war entdecken, sein Anzug schien ein etwas stark getragener, aber sorgfältig gepflegter Sakko. Nun erzählte er seine Qual, wie er es kaum mehr fertiggebracht habe, sich morgens anzuziehen, so verekelt sei ihm der Rock gewesen, obwohl er ihn täglich bügeln, klopfen, reinigen ließ. So endet jedes Werk des Schneiders: es stirbt an der eiligen, nach Neuem gierigen Phantasie, an Trugbildern, an Einbildungen ...

Quelle:
Koebner, F. W.: Der Gentleman. Berlin 1913, [Nachdruck München 1976], S. 13-16.
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