Der »Chic«

[8] In diesen Wintertagen, wo alle politischen und seriösen Gesprächsthemata vor der Frage des neuen Panierkleides des unerhörten Sakkostoffes erblassen, wo selbst die griesgrämigsten Hypochonder zum Schneider gehen und ihre Sommergarderobe einer Revision unterziehen, dürfte es interessieren, über den »Chic« zu plaudern. Wenige Worte gibt es, die uns so vertraut geworden sind, ohne von ihrer ursprünglichen Frische etwas eingebüßt zu haben. Die Etymologie des Wortes »chic« liegt in tiefem Dunkel. Über seinen Ursprung erzählt die Pariser Schauspielerin Mme. Marcelle Lender in ihrer Conférence über den »Chic«: Anfang des 19. Jahrhunderts unterhielt der Zeichner David in Paris eine Zeichenschule. Er war stark in Mode, und man überschüttete ihn und seine Schüler mit Aufträgen. Unter seinen Schülern befand sich der Sohn eines Obsthändlers namens Chicque. Die Zeichnungen dieses Chicque fanden die höchste Anerkennung seitens des Meisters David. Der junge Chicque starb plötzlich, achtzehn Jahre alt. David war untröstlich. Seit jenem Augenblick pflegte er, wenn einer seiner Schüler ihm eine Zeichnung vorlegte, mit der er nicht einverstanden war, zu sagen: »Chicque hätte das anders gemacht.« Gefiel ihm etwas, so war sein höchstes Lob: »Das erinnert mich an Chicque.« Natürlich waren in kurzem in seiner Schule die Ausdrücke: »Das ist chicque« – »Das ist nicht chicque« an der Tagesordnung. Ob diese Definition den Tatsachen entspricht, müssen wir Mme. Lender überlassen.


S. 9
S. 9

Vor einem Jahre veranstaltete der Verleger der Pariser Zeitschrift Fémina, Pierre Lafitte, eine öffentliche Conférence über den Chic. Zwei bekannte Pariser Schauspielerinnen standen sich hier als feindliche Parteien gegenüber – eben Mme. Lender unddie charmante Mlle. Mistinguett. Die Ansichten, die die beiden Frauen da entwickelten, stehen in schroffem Gegensatz zueinander. Mme. Lender wirft sich zur Verteidigerin des klassischen »Chic« auf. Sie hält den traditionellen und gemäßigten Chic für das einzig richtige. Den Chic, der nichts wagt, den Chic, der in den vornehmen Vorstadtvillen residiert, in den Boudoirs der verheirateten, diskret gekleideten Frau, auf den Fußwegen des Bois de Boulogne.

Mlle. Mistinguett dagegen, geistreich, temperamentvoll und etwas extravagant, verteidigt den phantastischen, erfindungsreichen, originellen Chic. Sie predigt die Kühnheit, das Recht aufzufallen, wenn man es geschmacklich vertreten kann. Beide Versionen haben etwas für sich. Es gibt viele hübsche Frauen, die nicht wirken, weil ihnen die Linie fehlt – der persönliche Zug. Das, was viele durch große Ausgaben erkaufen zu können glauben. Und doch haben Reichtum und Geschmack so gut wie nichts miteinander zu tun. Die goldüberladene kostbare Robe der Geheimrätin kann nie die Wirkung erzielen wie der weiße Batistkragen eines kleinen Mädels. Die Aufmachung, die »Art – wie» ... ist hier alles. Ändert sich nicht die Physiognomie einer Frau durch eine einzige Locke? Ist nicht die Kunst, sich seinen Gesichtszügen entsprechend zu friesieren, für jede Frau eine selbstverständliche und doch vielfach unbefolgte Regel? Frisur und Hut sind ganz allein imstande, das Typische im Gesicht einer Frau zu unterstreichen, die Züge zu veredeln, den Ausdruck zu verfeinern. Ist das alles nicht wichtiger – macht das alles nicht eine Frau chiker als die Kunst ihres Schneiders? Kann andererseits ein Mann ohne persönlichen Chic, selbst vom besten Schneider angezogen, von den teuersten Lieferanten bedient, »Chic« vortäuschen?


Der »Chic«

Eine Frau kann Chic beweisen durch die Art, wie sie den Hut aufsetzt, wie sie den Rock rafft, wie sie die Zigarette raucht, wie sie den Schleier bindet, wie sie in den Wagen steigt. Und ein Mann ist nicht chic durch die Art, wie er ißt, wie er jemanden begrüßt, wie er sich in Gesellschaft beträgt – denn das sind Sachen der Erziehung – Manieren. Und »chike Manieren« gibt es nicht. –

Quelle:
Koebner, F. W.: Der Gentleman. Berlin 1913, [Nachdruck München 1976], S. 8-10.
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