Autokultur

[117] Dröhnend wirft die Hühnengestalt des violett befrackten Portiers des Pariser Autoklubs die Wagentüren zu. In endloser Folge rollen die Automobile vor die pompöse Fassade, halten einen Augenblick still – ein Ruck, ein kurzes Zittern, und Auto auf Auto fährt davon, geräuschlos, blitzend, würdevoll. Hoch spritzt der Straßenschmutz an den Eisenstäben des blau-weißen Zeltdaches hoch, das vom Straßenrand bis zu der hellerleuchteten Glastür des Vestibüls den roten Läufer überdacht. Jedesmal, wenn ein Wagen naht, weichen die Hunderte neugieriger Zuschauer zurück, um sich aufs neue heranzudrängen, sobald das nächste Auto hält.

Wie in stummem Bewußtsein ihrer Eleganz gleiten die langgestreckten Wagen heran. Die Bogenlampen der Fassade spiegeln sich in den abgebogenen Ecken, dem tief glänzenden Lack der Türen, den geschliffenen Gläsern der Fenster. Im Innern blendet strahlend helle Deckenbeleuchtung, durch Spiegel reflektiert die tief und unsichtbar im Fond verschwindenden Insassen, oder matt leuchtende diskrete Lampen werfen von den hinteren Ecken aus einen unbestimmten Schimmer auf den seidengeblümten Stoffausschlag von Polstern und Wänden.


Autokultur

Der immer fortschreitende Luxus der modernen-Automobil-Karosserie hat eine Anzahl Neuheiten auf dem Gebiete des Komfort gezeitigt, die als übertriebene Bequemlichkeiten extravagant zu nennen sind, und doch als bezeichnende Kulturdokumente immerhin Beachtung verdienen. Da ist zunächst der elektrische Handspiegel. Ein im Innern an einen Akkumulator angeschlossener Spiegel, der am oberen Rande eine[118] Lichtquelle trägt und den Damen, die ins Theater fahren oder abends unterwegs sind, Gelegenheit geben, ihre Toilette oder Frisur zu ordnen. Was will aber diese kleine Apartheit gegenüber dem neuen Wagen von Gaby Deslys sagen, der in seinem Innern ein richtiges »Badezimmer« beherbergt, ein »Tub« mit Wasserleitung. Oder gegen den Renaultwagen der Pariser Schauspielerin Anna Held, die in ihrem Auto ein Diner für drei Personen servieren läßt. Oder gegen den Londoner Star Phyllis Dare, die hinten an ihrem Wagen einen Verschlag angebracht hat, dem beim Halten ein Neger entspringt.


Autokultur

Es ist da schwer, eine Grenze zwischen berechtigtem Komfort und extravaganten Kapricen zu ziehen. Und der Begriff des Komforts hat sich auch wesentlich und ungeheuer rasch verschoben. Was noch vor kurzem als besonderer Luxus galt, Teppiche, Innenbeleuchtung, Heizung, Sprachrohr, gilt heute als unbedingtes Erfordernis.

Der Chauffeur meldet, daß der Wagen zur Abfahrt nach dem Theater bereitsteht. Unmerklich erzittert wartend die Karosserie.[119] Die Heizung unter dem Fußboden ist eingestellt, der Wagen erleuchtet. Einen dünnen Spitzenschal über den ondulierten Haaren schlüpft Madame in den Wagen, Monsieur folgt, den Mantel über dem Arm, in Frack und Claque. Ein Klingelzeichen – und langsam gleitet der Wagen durch die Straßen. An der Vorderseite im Rücken des Chauffeurs hängt ein schmaler Spiegel, der die Aussicht nicht behindert. Ein Druck, und zwei Glühlampen beleuchten ihn – Madame ordnet ihre Toilette. Dann zieht sie sich die Handschuhe an, lehnt sich zurück, ein Druck auf einen seitlichen Knopf – die Schwebesitze sind ausgelöst, die neben den idealen Stoßdämpfern den Eindruck des Fahrens vollkommen verwischen. Andere Karosserien haben statt der Schwebesitze regelrechte Klubsessel, Sofas oder ganz im Wagen freistehende Sessel aus Leder oder Velvet. Aus den seitlich angebrachten kristallgeschliffenen Vasen entnimmt Madame die zarten Orchideen, die sie als Brustbukett verwendet und Monsieur, dem die starke Wärme im Wagen lästig fällt, setzt die – namentlich im Sommer sehr angenehme – Luftturbine in Tätigkeit. Ist die Fahrt weit, so klappt Monsieur wohl noch einen Eßtisch auf, in dessen Schublade Kakes, Obst, Schokolade bereitsteht. Endlich ist man angelangt, und mit kühnen Fanfarentönen hält das Auto in der Einfahrt. Die weißen Kegel der Lampen werfen riesige Lichter auf den naßglänzenden Asphalt. Der Schlag fliegt auf, ein kleiner Atlasschuh, eine brokatene Schleppe fegt über den graugerippten messinggefaßten Gummi der Trittbrettstufen, und der lange Kasten rollt im Bogen seiner Garage zu.

Sehr »en vogue« sind in Paris jetzt die kleinen für zwei Personen berechneten Selbstfahrer. Vorn und hinten geschlossen und so beschränkt, daß zwei kleine Pariserinnen nur in allerliebsten Trotteurhütchen darin Platz finden dürften. Und die kleinen weißbehandschuhten Händchen umklammero energisch das dunkle Holz des Steuerrades und temperamentvoll treten die Lackstiefeletten mit den weißen Ledereinsätzen die Bremse.


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Quelle:
Koebner, F. W.: Der Gentleman. Berlin 1913, [Nachdruck München 1976], S. 117-120.
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