291. Der Rabe, der dem Adler nachahmen wollte

[373] Dem Vogel Jupiters gelangs, ein Schaaf zu rauben.

Das sah ein Rab' und mogte glauben,

Wer gierig, wie der Adler, sey,

Dem steh, wie ihm, das Nehmen frey.

Er wandte schnell den Blick zur Erde,

Ersah sich aus der Heerde

Den schönsten Hammel fett und rund,

Gesparet für der Götter Mund,

Verschlang ihn mit den Augen.


»Ich kenne deine Amme nicht,

Doch du verstehst das Saugen,

Du überköstliches Gericht,

Gemacht für meinen Magen

Dem sollst du daß behagen!«

So sprach er, und hinab dem Hammel in die Wolle!

Doch der wog mehr als eine Butterstolle.

Und in dem Felle kraus und dick –

O Misgeschick! –

Saß unser Rab' wie eingeknetet.


Der Schäfer kam: »Was ist das hier?

Du Dieb du! Warte! – Bringet mir,

Ihr Kinder, doch das Bauer! –

Da, setzt ihn unters Schauer!« –
[374]

Hier sizt er nun und lehret sein,

Indeß die Kinder dreist ihn zerren:

»Wer rauben will, muß mächtig seyn.

Gemerkt, ihr kleinen, großen Herren!

Laßt euch des Raben Schicksal rühren,

Und euch von Adlern nie verführen!«

Quelle:
Laukhard, Friedrich: Zuchtspiegel für Eroberungskrieger, Advokaten und Aerzte. In: Zuchtspiegel für Fürsten und Hofleute, Paris [i.e. Leipzig] 1799, S. 373-375.
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