13.

[242] In diesem Kreise stand mir die Herzogin von Sagan mit ihrer reizenden Tochter Dolly – die ich im Gesang unterrichtete – am nächsten. Der Herzog hatte mich persönlich darum gebeten, und die Herzogin verwöhnte mich gründlich. Dolly war eine sehr begabte, fleißige Schülerin, bis sie sich – fast ein Kind noch – mit dem Fürsten Carl Egon von Fürstenberg vermählte, der ihr nach kurzer Ehe durch den Tod entrissen wurde. Wenn ich um 9 Uhr früh zur Stunde kam – anders konnte ich nicht der Proben halber – steckte die Herzogin ihren lieben Kopf aus ihrem Zimmer, reichte mir die Hand, und mit einem herzlichen: »bon jour« Mademoiselle Lehmann, »vous allez bien?« verschwand sie wieder bis nach der Stunde. Oft mußte ich zum Frühstück bleiben, wenn meine Zeit es erlaubte, und wenn wir manchmal allein saßen, schüttete sie mir wohl auch ihr tiefbekümmertes Herz aus, und Tränen fielen aus den so klaren blauen Augen. Aber sie konnte auch sehr witzig und heiter sein, und viele mit Geist und Humor gewürzte Stunden verdanke ich diesen drei so feinen, liebvollen Menschen.

Viel unvergessene Momente bergen meine Erinnerungen an die höchsten und hohen Persönlichkeiten des deutschen Kaiserhauses, der Aristokratie und so vieler berühmter Menschen. Man kannte sich gut, denn man begegnete einander fast allabendlich im Laufe des Winters. Wie wenigen aber trat man wirklich näher. Ohne Stillstand flutete das Leben an ihnen vorüber. Im ewigen Banne der Repräsentationspflichten lernten viele möglicherweise ein persönliches Innenleben gar nicht kennen. Zu manch einem Wesen zog es mich, von dem ein Hauch der Seele oder des Herzens ausging, mit mir sympathisierte, schnell aber oder scheu sich wieder verschließend, als solle oder dürfe es nicht sein. Im Taumel der Freude, des Glanzes ihrer Stellungen streifen sie die Träger der Kunst ohne ihrer hohen Sendung, ihrer Seele inne zu werden. Die Kunst reizt sie im Künstler. Beides gewährt ihnen eine Unterhaltung auf Augenblicke oder Stunden und ist das einzige, meist lockere Band, das beide miteinander bindet. Ich aber habe vielen aus diesem Kreise ein treues Andenken bewahrt. Für das junge[243] Mädchen war es eine glänzende Zeit; für die junge Künstlerin hätte sie es ebenfalls sein können, wenn die Musik, die man dort zu machen gezwungen war, nicht allzu minderwertig gewesen wäre. Nicht selten kam ich fast weinend aus diesen Konzerten und klagte meiner Mutter: »Mamachen, ich schäme mich vor den Leuten, solch elendes Zeug zu singen, sie werden denken, daß ich gar nichts Besseres kann.«

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 242-244.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Mein Weg
Mein Weg
Mein Weg
Mein Weg
Mein Weg