14.

[244] Der Gegenwart meiner Erzählung hastig vorauseilend, muß ich mich wieder in die Vergangenheit zurückfinden, da es in Wirklichkeit nicht gar so schnell ging, wie ich erzählen möchte, ja, mir manche Zeit sogar wie eine lange Geduldsprobe erschien.

Im Winter gastierte, wie alljährlich, Pollini mit seiner italienischen Gesellschaft, die aus Frau Artôt, ihrem Gatten, Mariano de Padilla, Tenor Vidal und anderen bestand. Man hatte Verdis Maskenball als Debüt annonciert, die Gattin des Kapellmeisters Goula, der man große Schönheit nachrühmte, sollte den Pagen singen. Drei Tage vor der ersten Vorstellung traf die Nachricht von deren schwerer Erkrankung aus Barcelona ein. Pollini wandte sich sofort an mich, ob ich den Pagen in kaum drei Tagen mehr lernen könne? Ich sagte zu. Obwohl ich nicht fließend italienisch sprach, wenn auch gewöhnt war, in der Sprache zu singen, und in Berlin wieder bei Maestro Pirani und dessen Gattin Stunden nahm, war's doch nicht leicht, da ich den Pagen in Aubers Maskenball gesungen hatte, der mir die alten Melodien gegen die neuen immer wieder aufzwang. Am dritten Abend sang ich aber die Rolle mit bestem Gelingen. Die Oper wurde wiederholt, und auch nach Hamburg gingen wir damit. In Goula lernte ich einen eminenten Kapellmeister kennen, der mich gar oft nach Spanien lud, und dem ich – weil ich die Einladungen abschlagen mußte – leider nie wieder begegnete. Die Rolle in italienischer Sprache in drei Tagen zu lernen war ein Kunststück. Es war aber nicht das letzte, das ich ausführte; und eines der vielen darf ich hier noch erwähnen.

Im Jahre 1875 schickte die Intendanz mittags um 12 Uhr zu mir, ob ich am Abend die Irma in »Maurer und Schlosser« singen und die Vorstellung retten wolle. Die Oper kannte ich gut,[244] hatte auch die Henriette in Danzig darin gesungen, die Partie der Irma aber nie angesehen. Unter der Bedingung, nur das Allernotwendigste für den Abend lernen zu wollen, sagte ich zu. Um 4 Uhr war ich mit dem mir ziemlich unbekannten Duett und Finale, die beide recht schwierig sind, der ersten Arie und dem Dialog zu Ende gekommen; die zweite Arie wollte ich fortlassen. Als ich mich zum Fortfahren ins Theater vorbereitete, sagte meine liebe Mutter: »Lilli, es ist schade, daß du die zweite Arie fortläßt, sie ist viel dankbarer als die erste, ich habe sie immer viel lieber gesungen. Wenn du willst, so singe ich sie dir noch recht oft vor, dann lernst du sie noch schnell?« Gesagt, getan. Mamachen singt sie mir vor, ich singe sie nach und kann um 5 Uhr auch die zweite Arie. Im Theater wartete schon der Kapellmeister auf mich, mit dem ich die Rolle durchflog, ihm meine Tempi anzugeben, und fort ging's in die Schlacht! – Die Aufregung, die sich meiner bemächtigt hatte, war furchtbar, fast ohnmächtig fiel ich nach der ersten Szene in den Kulissen zusammen. Welche Sünde es ist, jemand so etwas zuzumuten, das sehe ich erst heute so recht ein. Ein Nervenschlag hätte mein Lohn sein können für die Gefälligkeit. Wer hätte mir meine Gesundheit und ein vernichtetes Leben vergütet? Viele Tage und Nächte lag mir die Erregung in den Gliedern, von der ich mich kaum wieder erholen konnte. Man wird mir sagen, daß es doch mein freier Wille und kein Zwang gewesen. Zugegeben; aber die Verlockung, eine Vorstellung zu retten, ist einem Künstler so angeboren, möchte ich sagen daß es nur der Versuchung bedarf, um ihr bestimmt zu unterliegen.

Zu einer künstlerischen Ausarbeitung aller meiner Rollen, wie ich sie mir erträumt hatte, kam ich in Berlin vorderhand nicht. Die meisten Repertoireopern – auch wenn ich eine Rolle darin zum erstenmal sang – wurden ganz ohne Proben gegeben, und nur bei Einstudierung gänzlich unbekannter Werke wurde einem mehr Zeit gelassen. Freilich hatten wir ehrliche Künstler, die ihre Rollen für sich zu Hause studierten, damit fertig auf die Probe kamen und sich ineinander schickten, der Kleinere dem Größeren sich anpassend. – Denen tat ich's gleich vor allen andern, immer und überall. Für zweite oder dritte Kräfte aber, die weniger Künstler und meist gar nicht gewissenhaft waren, hatte man auch[245] keine Zeit. Die sangen nun und spielten so schlecht oder gut, wie sie wollten und konnten. Wie vieles ließen Kapellmeister und Regisseure durchgehen, das oft haarsträubend, der Kunst unwürdig war.

Unter Regisseur Hein ging's noch, weil er den Sängern etwas zeigen konnte, aber er war oberflächlich, und auf den Proben ging's drunter und drüber. Dekorationen bekam man in den Proben überhaupt nicht zu sehen. Der ganze Chor ob beschäftigt oder nicht stand laut schwätzend auf der Szene. Manchmal war's zum verzweifeln. Nach einer Regimentstochter-Probe, die ich zum erstenmal singen sollte, wo es zuging, wie ich eben beschrieb, lehnte ich mich ernstlich dagegen auf. Aber es half mir nichts. – Unter Moritz Ernst wurde es nicht viel besser, vor allem andern wußte er viel weniger als sein Vorgänger. Dann kam Ferdinand von Strantz, der Nachfolger Laubes und Kompagnon Friedrich Haases in Leipzig. Da war's noch schlimmer. Strantz war ursprünglich Offizier, dann Sänger, dann Schauspieler gewesen, und nun Opernregisseur, bzw. Direktor der königl. Oper. Leider hatte er auch noch viele Nebenberufe; er spekulierte in Häusern, interessierte sich für Pferde und verkaufte beides. Kurz, er war von seinen eigenen Geschäften oft sehr in Anspruch genommen, daß er nur ein geringes Interesse seinem Hauptberufe entgegenbrachte, weil ihm die Häusergeschäfte nicht selten den Kopf recht warm machten. Die Proben wurden immer kürzer und unzulänglicher. Der Spielopern, in denen ich beschäftigt war, die auf den letzten Proben oft noch gar nicht zusammengingen, nahm ich mich an, indem ich meine Kollegen bat, nach den Proben auf der Bühne zu bleiben, damit wir Dialog und Stellungen noch besser fixieren konnten. Der Souffleur gesellte sich gern dazu, denn auch ihm lag daran, daß alles glatt ging. War doch manch einer dabei, der zu Hause gar nichts tun und alles von den Proben verlangen wollte, die eben nicht stattfanden. Die Nachsicht mit Anfängerinnen ging oft so weit, daß sie noch auf den letzten Proben die Rollen aus den Partien sangen. So etwas wäre an keinem Theater möglich gewesen und hätte von Rechts und von der Kunst wegen mit sofortiger Entlassung bestraft werden müssen. Ich frug mich nur immer, was man in Prag oder in Leipzig in solchen Fällen getan, was die Regisseure Hassel und Seidl gesagt hätten? In Berlin[246] war es möglich und mit Frechheit von nichtskönnenden Anfängerinnen oft genug durchgeführt. Dann und wann spielte ich ganz energisch die Polizei, d.h., wenn ich beschäftigt war. Anderes ging mich nichts an. Daß ich von dieser Sorte als »neidisch auf junge Talente« erschien und bestens gehaßt war, läßt sich denken. Die Genugtuung ist mir aber geworden, daß manch ein Erfolg unserer hübschen Spielopern auf meine Rechnung zu setzen ist, nicht sowohl meiner Person wegen, sondern meines unermüdlichen Interesses halber für das Ganze, für das Kunstwerk, die Kunst und des Künstlers Ehre. Einmal auch begegnete es mir sogar, daß eine dieser »Künstlerinnen« sich nach ihrer Verheiratung herzlichst bei mir für die Zurechtweisungen bedankte und sich ihres unwürdigen Benehmens aufrichtig schämte. – Diese Art von unkünstlerischer Arbeit, von Gewissenlosigkeit und Leichtsinn, mit dem man so oft zu rechnen und zu wirken hatte, taten mir für die Kunst weher, als ich aussprechen kann.

Entschädigen mußten einen dafür alle diejenigen Aufführungen, in denen hauptsächlich alle ersten Kräfte beschäftigt waren, und eben solche, in denen ich autoritativ wirken konnte, indem ich auf eigne Faust mit den Nachlässigen probierte, mir einzelne sogar ins Haus bestellte und nicht eher locker ließ, bis sie einigermaßen Herren ihrer Rollen waren, zu dem ihnen allein Lust, Fleiß und Streben absolut fehlte. –

Hatte man nur mit sich allein zu tun, sich als passender Wert in Größeres einzufügen, dann war's ein Leichtes und eine Seligkeit. Nie hätte ich anders arbeiten mögen, nur immer mit höheren Geistern und größeren Talenten und nicht, um mich auf sie zu verlassen, sondern um mit ihnen zu kämpfen und zu ringen für das Ideal unsrer Kunst.

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 244-247.
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