15.

[247] In Obhut ihrer zukünftigen Familie hatten wir meine Schwester zurückgelassen, die plötzlich alle Heiratspläne wieder aufgab; die Liebe zur Kunst war ihr zurückgekehrt. Wohl mochte sie sich die Verhältnisse anders erträumt haben, als sie in Wirklichkeit waren, und kurz entschlossen ging sie – nach manchem Ringen und[247] Zagen – im Herbst 1871 nach Hamburg ins Engagement. Bald darauf holte sie unser alter lieber Freund, Direktor Behr, für fünf Jahre nach Köln. Einen Winter sang sie in Breslau, drei weitere Jahre in unserer alten Heimat Prag, und schließlich ging sie nach Wien, wo sie als k.u.k. Kammersängerin als Liebling des musikalischen Publikums vierzehn Jahre lang ununterbrochen tätig, noch heute unvergessen ist.

Als ihre Nerven aber wieder einmal und stärker als je vorher revoltierten, sagte sie – impulsiv wie immer – der Bühne Lebewohl. Viel zu früh beschloß sie eine reiche Karriere, viel zu jung und im Vollbesitz ihrer Stimmittel. Mahler wollte sie Wien durchaus wiedergewinnen, doch konnte sie sich nicht mehr entschließen, die Bühne wieder zu betreten, trotzdem ihr das Leben ohne ihre Kunst, leer und zwecklos vorkam.

Auch hier muß ich zurückgreifen. Im Jahre 1872 forderte mich Richard Wagner auf, die Sopranpartie in der 9. Sinfonie zur Grundsteinlegung des Bayreuther Wagnertheaters zu singen, doch wurde mir der Urlaub verweigert. Ich schlug Wagner vor, meine musikalische Schwester dafür zu engagieren, die sich ihrer Aufgabe zu seiner Zufriedenheit entledigte.

Wie leid tut es mir noch heute, daß ich die erhebende Feier der Grundsteinlegung nicht habe mitmachen können. Ich begriff aber auch, daß ich gerade zu der Zeit in Berlin unabkömmlich war, ich durfte nicht murren. Es gehörte zu den größten Enttäuschungen meiner lieben Mutter, daß Riezl die wiederholten Engagementsanträge Hülsens aus ganz haltlosen Gründen ablehnte, denn sie hätte es für die größte Freude ihres Lebens erachtet, uns beide an einer so großen Bühne vereint zu sehen. Später machte es sie freilich auch sehr glücklich, Riezlchen in Wien so außerordentlich anerkannt zu wissen. Sicher bin ich, daß meine Schwester besser nach Wien paßte als ins ernste Deutschland, dort, wo ihrer Heiterkeit und sorglosen Kollegialität ein angenehmerer Boden vorbereitet lag.

Im Laufe der fünfzehn Jahre meines Berliner Engagements sang meine Schwester sehr oft für mich an der königlichen Oper, so oft sie bei uns zu Besuch, ich zu Gastspielen fort war, was nach Abschluß meines zweiten Berliner Kontraktes gar oft der Fall gewesen. Leider konnte sie nicht überall für mich singen.[248]

Anfangs der 70ger Jahre erhielt ich folgendes Telegramm: »Können Sie morgen hier Rosine singen? Schloß.« Natürlich konnte ich. Ich besann mich nie lange, wenn es sich darum handelte, am Platz zu sein; hatte nichts Eiligeres zu tun, als mir von Hülsen den Urlaub zu erbitten, den er sofort bewilligte, besorgte mir mein Kostüm, telegraphierte an Schloß-Dresden, daß ich käme, und fuhr am andern Morgen um 8 Uhr selbst nach dort. Sehr erstaunt, keine Probe angezeigt vorzufinden, gehe ich ins Theater und erfahre zu meinem größten Schrecken, daß Schloß seit einem Jahre schon nicht mehr in Dresden, sondern in Hamburg sei und mich wahrscheinlich dort erwartete. Von Schloß Rücktritt hatte ich kein Wort gehört, ich kannte Schloß nur in Dresden und war hauptsächlich darüber entsetzt, daß dieser nun in Hamburg umsonst auf mich wartete. Sofort telegraphierte ich: »Irrtümlich Dresden gereist,« und mußte mich schließlich dabei beruhigen, da ich's nicht ändern konnte. Dafür ging ich in die Galerie und sah zum erstenmal die »Sixtina«, ich möchte lieber sagen: zum erstenmal ein Bild! Bei seinem Anblick schwand mir jeder Irrtum, es war mir gleich, ob sie in Hamburg eine Rosine hatten oder nicht, ich sah nur dieses Bild, das mir zur lebendigen Erlösung wurde, mich in eine Kunst einweihte, die ich bis dahin noch nicht verstanden hatte. Der Eindruck war so nachhaltig wie Wagners Tristanvorspiel, obwohl beides so Grundverschiedenes gibt. Nur daß beides vom Genius empfunden und geschaffen war. Mir scheint, es gäbe kein größeres Glück, als ihn empfinden und verstehen zu dürfen!

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 247-249.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Mein Weg
Mein Weg
Mein Weg
Mein Weg
Mein Weg