18.

[252] Mama war zur Kur nach Marienbad abgereist, meine Schwester zu mir gekommen. Die Wohnungsfrage mußte nun endlich erledigt werden. Meine Mutter hatte sich eine passende Wohnung auf dem Leipziger Platz Nr. 19 angesehen und mir empfohlen; als ich aber die Mansardenfenster von unten sah, die nach dem Potsdamer Platz liefen, weigerte ich mich, hinaufzugehen, und sagte stolz: »In die Fenster bringen mich keine zehn Pferde«. Wir hatten eines Tages in der Charlottenstraße eine Wohnung angesehen, die ich bestimmt zu mieten gedachte, als uns der Zufall am Leipziger Platz vorbeiführte und mir die Wohnung Nr. 19 ins Gedächtnis zurückrief. Der Zettel hing noch am Hause, und besser gelaunt entschloß ich mich zum Aufstieg in den dritten Stock. Da flutete mir so viel Sonne, Licht und Wärme aus den kleinen neu[252] hergerichteten Mansardenzimmern entgegen, denen ein einziges großes »Turmzimmer« als Aushängeschild diente, daß ich unbekümmert um alle Nebenumstände und den hohen Preis die Wohnung nahm und siebzehn Jahre lang behielt.


»Die goldene Sonne« in Leipzig, in der es so eisig ziehen konnte, hatte mir ein sehr unangenehmes Andenken hinterlassen. Es zwickte, zwackte und riß mich schon seit lange an Händen, Füßen, Armen, Beinen, Kopf und Schultern, der Schmerz flog unaufhörlich hin und her und steigerte sich bis zur Unerträglichkeit. Ich wurde gezwungen, in Wiesbaden Heilung vom fliegenden Rheumatismus und meinen Schmerzen zu suchen, wo Mama und ich während meiner Urlaubszeit im »Hotel Adler« stille Wohnung und ausgezeichnete Verpflegung fanden. Meist lagen wir um 1/29 schon in den Federn, nur selten gingen wir ins Theater, das übrigens ausgezeichnet war, und wo wir Wilhelm Jahn und Gabriele Szégal, die dramatische Sängerin meiner Prager Epoche, wiederfanden. Gabriele Szégal hatte die größte und wärmste dramatische Stimme, deren ich mich erinnere. Sie war nebst Marie Wilt auch die letzte jener Sängerinnen, die außer hochdramatischen Rollen noch die Konstanze in der Entführung großartig sang und auch die Königin der Nacht singen konnte. Groß und stark, schien sie dennoch knochenlos in den oberen Extremitäten. So oft sie Hände und Arme aufhob, sanken sie haltlos sofort wieder herunter; nie kam eine ruhige Bewegung, nie der geringste Ausdruck dadurch zustande, und mit den Gesichtsmuskeln war's nicht viel besser. Sehr befreundet, übersprachen wir die Tatsache, doch gelang es der unendlich fleißig-strebsamen Künstlerin nicht, ihre Energie auf das Festhalten von Hand- und Armstellungen zu konzentrieren. Ich erwähne es, weil mir nie vorher oder nachher im Leben ähnliches Unvermögen vorgekommen ist.

An der Table d'hote unseres Hotels, deren Präsident General von Schlichting war, lernten wir Kaufherrn Schwabe aus Manchester kennen, der bald darauf nach Berlin übersiedelte, in dessen Familie ich viel verkehrte; außerordentlich feinfühlende, gebildete Menschen. Bei ihnen traf ich im fröhlichen Kreise Rubinstein, Adolf Menzel, Ernst von Wildenbruch und Karl Maria von Webers[253] Sohn, dessen Tochter Maria sich Ernst von Wildenbruch zur starken Lebensgefährtin erkor.

Auch Bodenstedt lernte ich in Wiesbaden kennen, der auf Spaziergängen öfter unser Begleiter wurde, mir aber trotz seines entzückenden Mirza Schaffy keine Sympathie abgewinnen konnte; ein Resultat, das sich bei seinen Berliner Besuchen nur erneuerte.

Die Kur bekam uns glänzend. Nie noch hatten Mutter und ich uns die unbedingte Ruhe gegönnt, die uns beiden seit langem schon not tat. Das regelmäßige Leben, der schöne Aufenthalt, frühes Zubettgehen ruhten meine Nerven und den angestrengten Körper aus. Die rheumatischen Schmerzen freilich nahmen wie nach jeder Heißwasserkur mehr überhand, aber nach Jahresfrist war ich vollständig davon befreit, sie meldeten sich nie wieder.

Ehe ich Wiesbaden verließ, sang ich in einem Konzert und zwei Tage darauf in Jahns Benefiz die Königin in den Hugenotten. Wie freute ich mich, Jahn gefällig sein zu dürfen, der uns als Kinder kannte und gegen Mama stets liebenswürdig gewesen war. Fräulein Szégal lieh mir ihre Kleider, aus deren Taillen alle Seitenteile genommen wurden, denn ich war noch immer übermäßig schlank, was dem Erfolg des Abends keinen Eintrag tat und mich, wie jeder Erfolg, ein wenig stolz machte.

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 252-254.
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