19.

[254] Wie sonnig war's in unserer neuen Wohnung! Nicht viel größer, nicht eleganter als die alte, aber überall sah man auf Gärten und blühende Bäume. Die alten herrlichen Linden am Leipziger Platz, von denen die eine den ersten Sonnenstrahl des Ostens empfing und darum allen andern um mindestens acht Tage voraus war. Wenn sie dann alle ihre zarten durchsichtigen Blattgewebe eben ausgeschossen hatten, die schwarzen Äste und Zweige aber noch durchschimmerten, sahen sie aus wie hellgrüne Schleier körperloser Elfen aus alten Märchen. Mit jedem Frühling wurde das alte Wunder ein neues, herrlicheres, stimmungsvolleres. Unseren Fenstern gegenüber, die nach dem Potsdamer Platz liefen, stand das kleine Tiergarten-Hotel mit seiner blühenden[254] Zauberecke, in der es monatelang täglich etwas Neues, Blühendes zu betrachten gab. Man hatte dabei das Gefühl des Eigentums, oder eines lieben Andenkens, das man keinem andern gönnen mochte, aus Angst, es könne weniger heilig gehalten, weniger geliebt werden. Und die alten Kastanienbäume der friedlichen Bellevue- und Potsdamerstraße! Mußte es nicht hell sein, wo so viele Kerzen leuchteten? Und fast mitten auf dem Platz stand die kleine brüchige »Comode«, die Ringapotheke, oder ihrer schlechten Medikamente halber vom Berliner die »Giftapotheke« getauft, von deren kleinem Balkon des ersten Stockes bei jeder patriotischen Gelegenheit zwei elende, kleinste schwarzweiße Fähnchen wehten. Und durch die ganze Königgrätzerstraße lief ein Bahngleis, auf dem Frachtzüge von einem Pol der großen Stadt zum andern mit Glockengeläute geschoben, d.h. gefahren wurden. Und was fuhr, zog und ritt nicht alles an uns vorbei! Der ganze Hof von und nach Potsdam und alle Einholungen fanden dort statt. Als ersten sahen wir den Schah von Persien einziehen. Und Regimenter zogen mit klingendem Spiel zu Paraden oder Übungen aufs Tempelhofer Feld, von deren Uniformen Mamachen immer per »Maskerade« sprach. Und der Tiergarten, in welchem man damals noch allein, sorglos spazieren gehen konnte, ohne Furcht vor Raub und Mord. Und der zoologische Garten, worin uns jedes Tier kannte und seine Freude ausdrückte bei unserem Kommen! Damals war Berlin noch eine kleine große Stadt, und urgemütlich waren die Berliner, die, nur noch in wenigen Originalen vorhanden, längst im Aussterben begriffen sind. Ach ja, Erinnerung ist ein Paradies, worin Glück, Dankbarkeit und Zufriedenheit ihre Lieblingsplätze zeitlebens besetzt halten.

Und wenn nach Bayreuth 76 die Ulanen am Potsdamer Platz gar so schön bliesen, so wußten wir, daß es unser damals noch junger Major – heute unser lieber, treuer, alter Freund, General Oscar v. Rabe, Exzellenz, war, der, seinem Regiment vorausreitend, so schön aufspielen ließ, dem wir huldvollen Dank vom hohen Balkon herunternickten. Das heißt, einen Balkon hatten wir nicht, wohl aber einen Dachgarten, auf dem wir uns wie Freiinnen dünkten; oder wir lächelten aus hohen Fenstern hernieder dem treuen Ritter zu.[255]

Anfangs der siebziger Jahre war Oscar v. Rabe Adjutant des alten Wrangel gewesen, ihm und seiner Gattin bis in den Tod ergeben, was die Berliner nicht hinderte, den jungen Adjutanten »das Kindermädchen« zu nennen. Papa Wrangel war schon sehr kindisch! Oscar v. Rabe sang selbst recht gut, war Theaterenthusiast wie wenige. In Bayreuth erklomm er trotz seiner Anbetung für Mozart doch auch die Staffel des Wagnertums, wie er gleich allen Musikenthusiasten überall zu finden war, wo Kunst und Künstler Großes darzubieten versprachen.

Unser Haus, auf dessen Stätte sich heute das große Palast-Hotel erhebt, war vom Obertribunalsrat Heffter erbaut, der den ersten Stock bewohnte, das Haus aber bereits an Herrn Alwin Ball, im zweiten Stock, verkauft hatte. Den dritten Stock teilten wir vorläufig mit einer Witwe und deren drei Kindern, bis ich später die ganze Etage nahm, die nun aus acht Zimmern usw. bestand und auf den Potsdamer und Leipziger Platz die Aussicht hatte. Von Heffters, mit denen ich freundschaftlich eng verbunden war, brauche ich nur eine kleine Episode zu erzählen, um sie zu kennzeichnen. Als der liebe alte, 83jährige Obertribunalsrat starb, unterließ ich alles Singen, mußte aber am dritten Tage notwendig üben, nachdem ich zuvor herzlich hatte um Entschuldigung bitten lassen. Die einzigliebe Frau ließ mir sagen, das solle ich ja tun, denn ihr lieber Alter würde sich noch im Sarge freuen, mich zu hören. Glücklicher, gesunder Humor würzte der ganzen großen Familie das Leben, die doch auch manches Schwere zu ertragen hatte. Und wie ich die Großeltern liebte und verehrte, so hängen noch heute Enkel und Enkelkinder an mir in treuer Liebe und Freundschaft.

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 254-256.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Mein Weg
Mein Weg
Mein Weg
Mein Weg
Mein Weg