20.

[256] Ehe wir im Sommer 1874 in Selisberg Aufenthalt nahmen, hatte ich nach einer ziemlich anstrengenden Saison noch die »Genofeva« von Schumann für Hülsen gelernt, der die Oper gerne geben, sie aber erst sehen wollte, um sich ein Urteil darüber zu bilden. Wiesbaden, wohin er nach der Saison meistens ging, schien ihm der geeignetste Ort dafür. Dort also sang ich erst die[256] Susanne im Figaro und gleich darauf, mit einer einzigen Probe, die Genofeva, mit der ich mir sehr viel Mühe gegeben hatte – die dann aber in Berlin, zum Dank, Frau Mallinger sang. Zu einer Wiederholung konnte ich mich nicht entschließen, da ich mich nach Ruhe und Freiheit sehnte.

Wir trafen Ende Juni in Selisberg ein. Zum erstenmal sah ich die Schweiz und ihre schönste Perle: den Vierwaldstätter See! Wir waren mit Gewitter über den See und oben am Hotel angekommen. Als wir aber gleich darauf heraustraten, stand über dem Axenstein – uns gegenüber – ein Regenbogen, wie es in Schillers Tell beschrieben, wenn die Männer am Rütli – eigentlich Grütli – unterhalb Selisberg, schwören. Wie ein Wunder stand die Szene vor unseren Blicken, obwohl es sich im Tell bekanntlich um einen Mondregenbogen handelt, den ich erst fünfzehn Jahre später, ebenfalls in der Schweiz kennen lernen sollte.

In Selisberg trafen wir Freiherrn von Rommel aus Kassel, der sich meiner Mutter lebhaft erinnerte, dessen Tochter ausgezeichnet Harfe spielte, und mit dem sie oft alte Erinnerungen tauschte. Es fand sich auch sonst für uns sehr angenehme Gesellschaft zusammen. Eines Tages kamen zwei junge Männer angereist. In demjenigen der einen Violinkasten trug, erkannte ich unseren alten Leipziger Freund, Wilhelm Schwendemann – später Professor am Würzburger Konservatorium; in dem anderen Dr. S. aus Berlin, später berühmter Halsarzt in London, die beide auf einem Bummel begriffen, uns zu überraschen gedachten. Die wenigen Tage, die sie sich oben aufhielten, benützten wir zum Musizieren. Dr. S. spielte glänzend Klavier, Schwendemann war ein ausgezeichneter Geiger. Nun wurde alles hervorgesucht, was mit Begleitung der beiden Instrumente zu singen war, ganz Selisberg stand auf dem Kopf. Natürlich fehlte es nicht an der Ursache zu einem Wohltätigkeitskonzert, das unter unserer »gütigen Mitwirkung« vom Morgen auf den Abend veranstaltet und 1000 Frs. für einen armen schwindsüchtigen Kapellmeister eintrug. Die eigentlichen Veranstalter des Konzertes waren: Herr und Frau General von Voigts-Rhetz, die erst selber spielen sollte, dann aber absagte, und die berühmt schöne Frau von Mutzenbecher aus Wiesbaden, die Kaiser Wilhelm gerne sah. Als die beiden fahrenden[257] »Musikanten« talabwärts gezogen waren, wurde es wieder still und beschaulich in unserem Hotel und auf dem Berge.

Das Ereignis dieses herrlichen Aufenthaltes bildete ein Brief Richard Wagners an meine Mutter, worin er anfrug, ob wir beiden: Riezl und ich, in den Bayreuther Festspielen mitwirken könnten; er brauche frische, junge Kinder. Um alles Nähere zu besprechen, würde er sich freuen, uns bald in Bayreuth zu sehen. Mit freudigstem »Ja« sagten wir Wagner zu und versprachen unser Eintreffen in Bayreuth für Anfang August einzurichten.

Wir sollten noch Zeugen eines furchtbar traurigen Ereignisses sein, ehe wir Selisberg verließen. Föhn brach herein und hielt alle Gäste tagelang im Hause gefangen. Nur die Beherztesten, zu denen ich mich rechnen darf, trotzten Sturm und Regen und liefen durch Wälder über Berge. Hiobsposten drangen durch Boten zu uns herauf, Gäste konnten weder herauf noch hinunter, bis endlich nach acht Tagen das Wetter sich zu ändern anschickte. Kaum hatte ich ein Fleckchen blauen Himmels erspäht, das der Nebel sofort wieder neidisch verhüllte, als ich mich in Begleitung des alten Herrn von Rommel aufmachte, nach Weggis hinunter zu marschieren, teils um mich auszulaufen, teils um die Schäden zu besehen. Schon unterwegs boten sich uns schreckliche Bilder; die schönen Wege waren unpassierbar. Hier lagen herrliche Bäume darüber, dort waren große Flächen Äcker und Wiesen in die Tiefe abgerutscht, nur kahle Felsen sichtbar, auf denen sonst üppige Wiesen lagerten; vieler Jahre Mühen total vernichtet.

Beim Anblick der traurigen Bilder wüster Zerstörung ergriff mich ein wahrer Kummer, den ich heute noch tausendfach stärker empfinde, seitdem ich weiß, was alles in Stunden vereinter lebendig gewordener Elementarkräfte der Vernichtung preisgegeben ist. Da hegt und pflegt man an jedem Blümchen, jedem Tierchen, pflückt keinen Halm, zertritt kein Insekt, um sie dem Haushalt der Natur zu erhalten, und in einer einzigen Minute machen wütende Elemente Myriaden von Lebewesen, Blumen und Bäumen zu nichte.

Sämtliche Ortschaften am See standen tief unter Wasser, mit Kähnen hielt man den Verkehr aufrecht; ein ungeheurer Schaden war angerichtet. Traurig erstiegen wir die nun fast weglose Anhöhe.[258] Ich wollte nicht mehr hineinsehen in das – wie mir schien nie wieder gut zu machende Unglück. Solcher Naturereignisse gewohnt, vielleicht auch stärker, weniger fein besaitet als wir, hatten die Schweizer nur weniger Tage bedurft, alles zu säubern; und sobald sich das Wasser verlaufen hatte, waren auch schnell die letzten Merkzeichen des Unglücks verschwunden. Mir aber tat's noch lange weh, nachdem wir Selisberg den Rücken kehrten, mit Alpenveilchensträußen überschüttet, die uns viel dankbare Menschenkinder mit auf den Weg gaben, die gut gemeint, mir in dieser Überfülle aber schon damals ein Vandalismus schienen, ein Raub an der Natur. –


Brichst Du Blumen, sei bescheiden

Nimm nicht gar zu viele fort! –

Nimm ein paar und laß die andern

In dem Grase, an dem Strauch!

Andre, die vorüberwandern

Freu'n sich an den Blumen auch.


(Joh. Trojan.)

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 256-259.
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