7.

[226] Bald schon hatte ich mich eingelebt in den Künstlerkreis, deren manche hoch über mir standen, mit denen künstlerisch zu arbeiten mir als langersehnte Notwendigkeit und Anregung erschien. Den Besten nachzueifern – was aus eigner Kraft noch nicht gelingen wollte –, sie endlich zu erreichen oder gar zu überholen, der Sphäre wenig Begabter, Unstrebsamer zu entfliehen mich auf geistig-eigene Füße zu schwingen, mich den Größten durch Können und Wissen beizustellen, war mein Ziel. Ein Ziel, das einen beständigen Kampf meiner geistigen Kräfte mit meiner physischen Unzulänglichkeit bedeutete. Und dieser Kampf war ein nie endender. Galt es doch den Ursachen dieser Unzulänglichkeiten auf die Spur zu kommen, sie zu meistern, wozu ich eines langen Lebens bedurfte.

Wenn auch anfangs von den »Größten« über die Achsel angesehen, war man mir nicht unfreundlich entgegengekommen.[226] Dennoch zog ich mir einmal eine böse Szene zu, als ich drei meiner Kollegen in aller Bescheidenheit gegen den »Größten« in Schutz nahm, die ihm seine große Szene im Rienzi verdorben hatten. Ein sehr alter Künstler und ein jüngerer Tenor, beide ohne Augengläser fast blind, die zwei Verschworene im Rienzi darstellten, und Marianne Brandt als Adriano sollten im 4. Akt an dem hinteren Pfeiler der Kirchentür stehen und unauffallend hinter der Kirche verschwinden, sobald Rienzi – vom Priester verflucht, auf den Stufen der Kirche festgebannt – auch von Irene, seiner Schwester, die – etwas entfernt von ihm – ohnmächtig zusammengebrochen ist – scheinbar ganz verlassen dasteht. Alles Volk ist entflohen; niemand mehr auf der Bühne außer Rienzi und Irene. Adriano stürzt endlich auf die Bühne auf Irene zu, um sie mit sich zu führen. Irene erwacht, stößt Adriano in wahnsinniger Erregung von sich, sieht Rienzi und wirft sich ihm – dem Erstarrten – an die Brust. Rienzi, von plötzlichem Leben durchströmt, entwindet sich seiner Starrheit, nimmt Irenes Kopf in seine noch zitternden Hände, küßt sie inbrünstig mit Tränen in Stimme und Herzen, frägt tiefergriffen: »Irene, du?«, ermannt sich zu seiner ganzem Größe und ruft begeistert, indem er die geliebte Schwester an sich drückt: »Noch gibt's ein Rom!«

Ja, noch gab's einen Rienzi, noch ein Rom, als dieser Meister ihn uns darstellte mit seinem Geist, seiner Autorität und seinen Tränen. Aber auch ihn wird niemand mehr sehen, niemand mehr einen echten Rienzi kennen lernen. Wohl uns, die wir ihn noch schauen, ihm noch nachempfinden und zujauchzen durften!

Wir müssen aber wieder zurück zu den Verschworenen, die sich anstatt hinter Rienzi vor Rienzi aufgestellt hatten. Niemann winkte ihnen zu, als er es gewahrte, sie sollten dahintertreten. Alle drei glaubten darin eine Aufforderung Niemanns zu erkennen, sich auffallender ins Spiel zu mischen, und fingen nun an, sich da vorne bemerkbar zu machen und »verschworen« zu spielen wie nie zuvor. Niemann wird immer wütender, denn sie sehen und hören nicht, und auch meinen Rufen und Augenzwinkern bleiben alle drei taub und blind. Ich frug mich in Todesangst nur: wie das enden würde? Die drei hatten ihm wirklich die Szene verdorben, denn auch Adriano mußte nun, um zu Irene zu gelangen, [227] vor Rienzi vorbei. Es war nicht auszudenken! Das Publikum jubelte indessen nach Schluß des Aktes wie sonst, hatte es wohl gar nicht bemerkt und rief Niemann ein dutzendmal vor den Vorhang. Und ich armes junges Ding mußte mit hinaus, obwohl ich nichts dazu beigetragen hatte außer meinem Besten, das damals noch recht wenig Äußeres hermachte sondern tief im Innern saß, weil die Pranke des Löwen mich fest packte und nicht losließ. Ich selbst war nach der Szene aufgelöst von der Macht dieses Titanen, von der Szene, die, von »ihm« so dargestellt, jeden erschüttern mußte.

Als wir von der Bühne gingen, war's aber um die drei – die allerdings nicht mehr da waren – geschehen. Nun brach seine Erbitterung los, der Löwe wollte Blut sehen. Ich sah, wie der Mann sich erregte nach der furchtbar ergreifenden Szene, und hatte die unglückliche Idee, ihn ganz bescheiden zu bitten, sich doch zu beruhigen; die drei Schuldigen hätten ihn mißverstanden, unabsichtlich die Szene gestört. Nun mußte er einen Blitzableiter haben, und sein Zorn traf mich Unglückswurm – indem er mich anschrie, daß mich die Sache nichts anginge – so bitter, daß ich laut schluchzend in meine Garderobe lief und kaum imstande war, den letzten Akt zu Ende zu singen.

Andern Tags verlangte ich meine Entlassung – resultatlos –, wofür man mir aber Genugtuung zu geben versprach. Lange Zeit wartete ich vergebens auf diesen Ausgleich. Der »Große« oder »Lange«, wie die Herren ihn nannten, existierte nun nicht mehr für mich. Ich hörte sein Bravorufen nicht, all seine Lobesworte gingen ungehört an mir vorbei, und obgleich ich nichts auf der Szene versäumte, wenn ich mit ihm beschäftigt war, hielt ich mich wohl drei Jahre fern von jeder Gemeinschaft, bis eines Tages sich die Spannung in idealen Sphären, denen sich kein Künstlerherz verschließen konnte, glücklich löste.

Es war und blieb der einzige Mißklang in den 15 Jahren meiner Zugehörigkeit an der Berliner Oper. Doch hatte mich mein Benehmen bei den anderen in Respekt gesetzt, denn der nicht sehr gesprächige Betz sagte mir eines Tages: »Aber Charakter haben Sie!«

Ein exemplarisch guter Ton herrschte unter den Berliner Künstlern, der niemals durch die geringste Nachlässigkeit oder Unfeinheit[228] gestört wurde. Wohl konnte ich von Glück sagen, diesen anständigen Ton auch in Prag, Danzig und Leipzig getroffen zu haben, woran natürlich nicht nur die Direktoren, Regisseure und Kapellmeister schuld sind, zu dem man eben selber ein gut Teil, ja fast alles beitragen kann, indem man sich weniger Feinfühlenden gegenüber unnahbar macht. Das trauliche »Du«, das in Österreich zwischen allen Künstlern und, wie ich höre, auch unter Offizieren gebräuchlich ist, kommt in Deutschland wenig vor, oder auch nur bei solchen, die langjährige Kollegialität und Freundschaft verbindet. Allerdings gibt die österreichische Art sorgloser Herzlichkeit – so lange sie in ihren Grenzen bleibt – dem leicht empfänglichen Künstler viel Behaglichkeit, die norddeutschen Künstlerkreisen vollständig abgeht. Nur zu gerne gebe ich mich vorübergehend dieser Liebenswürdigkeit gefangen, und dennoch ziehe ich den Ernst des deutschen Künstlers vor. Die allzugroße Sorglosigkeit österreichischer Künstler ist in längerem Umgang auf die Dauer nicht leicht erträglich. In Deutschland wird ernster gearbeitet. Dafür hat Osterreich stärkere Talente, die durch unmittelbare Herzlichkeit anderen so warm entgegenströmen, deren wirksamer Ursprünglichkeit zuzujubeln uns Deutsche innere Erkenntnis und freudigste Sehnsucht treibt.

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 226-229.
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