8.

[229] Für den 27. Januar 1872 war eine Vorstellung vom »Figaro« mit Frau Mallinger als Susanne und Frau Lucca als Page angesetzt. Am 26. abends wollte ich nach Danzig zum Gastspiel, doch ließ mich Hülsen bitten, meine Reise auf den 28. früh zu verschieben. Er bat mich, am 27. abends in der Figarovorstellung zugegen zu sein, da ich möglicherweise die eine oder die andere Rolle im Laufe des Abends weitersingen müsse. Zwischen den Damen Mallinger und Lucca war es schon öfter zu unliebsamen Szenen gekommen. Letzthin hatte man der Lucca nach einer Faustaufführung so was wie »Straßengretl« in den Wagen hineingerufen, und als sich Frau Lucca beklagte, fuhr sie nunmehr in und aus der Vorstellung an der kaiserlichen Einfahrt vor: der Kaiser hatte es befohlen! Nun harrte ich am 27. Januar in der Künstlerloge der Dinge, die sich ereignen sollten. Die Vorstellung war[229] an- und aufregend genug. Als Frau Lucca-Page auftrat, johlte, pfiff und zischte man von der Galerie herunter. Kaum wurde der Versuch gemacht, ein Wort zu sprechen, als der Lärm von neuem begann. Auch Eckerts Intention, mit dem Orchester die Pagenarie zu beginnen, mißlang vollständig. Endlich machte Frau Lucca Zeichen, daß sie sprechen wolle, worauf sich Gezisch und Applaus legten und sie echt luccaisch folgendes sprach: »Ich weiß nicht, was man von mir will, ich bin mir keiner Schuld bewußt und frage: ob ich fingen soll, ob nicht?« Neuer Lärm, bis schließlich der Applaus und die Zurufe: »Singen!« Gezisch und Gejohle niederkämpften die Vorstellung ihren Fortgang nehmen konnte.

Beide Damen hatten mich oben in der Loge sitzen sehen, sonst wäre unfehlbar die eine oder die andere in Ohnmacht gefallen, die Vorstellung gestört gewesen. Die Sache war aber noch nicht zu Ende. Im II. Akt soll Susanne, wie üblich, am Schluß der kleinen Arie dem Pagen einen Kuß geben. Frau Mallinger, die stets – und nicht nur an diesem Abend – nach neuen Nuancen suchte, darin oft zu weit ging, gab Frau Lucca anstatt des Kusses einen kleinen »Backenstreich«. Frau Lucca beklagte sich über die »Ohrfeige« und der Skandal spielte weiter bis ans Ende der Oper. Eine Schande für die Kgl. Oper und für beide Damen. Wer im Recht war, ließ sich im Augenblick nicht entscheiden und nun – hab ichs vergessen.

Frau Lucca war fast 12 Jahre in Berlin, hatte nur 8000 Taler Gage, wollte nach Amerika und kam nochmals um einen Urlaub ein, den man ihr weigerte. Als bald darauf der Figaro wieder angesetzt war, kam das Publikum vor verschlossene Türen: Frau Lucca war nach Amerika »abgereist«! Von da an sang ich viele ihrer Rollen.

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 229-230.
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