9.

[230] Auf dem Tempelhoferfelde nahmen wir im September selben Jahres die Dreikaiserparade mit Freund Kohler in Augenschein, der von seinem Blatte extra nach Berlin dazu gesandt war. Unter vielen Festlichkeiten fand auch ein großes Hofkonzert im Weißen Saale statt, in dem ich sang und zum erstenmal alle Pracht der[230] großen Zeremonien, die drei Kaiser: Wilhelm I., Franz Josef I. und Alexander II., Bismarck und Moltke sah. Es war das letzte Hofkonzert, dem Bismarck beiwohnte. Der Anblick war großartig. Im Weißen Saale des Berliner Schlosses spielen alle großen Zeremonien und Festlichkeiten.

Quer der Längsseite, am oberen Ende des Saales, ist eine Estrade für Orchester und Sänger aufgestellt. Ein großer breiter Mittelgang bleibt längs des Saales frei. Rechts vom Orchester sitzen in der Mitte auf Thronsesseln: der Kaiser – damals die drei Kaiser – und die Kaiserin; etwas niedriger von beiden Seiten der Majestäten: der Kronprinz, die Kronprinzessin und alle anderen Prinzen und Prinzessinnen des Kaiserlichen Hauses. Hinter dem Kaiser direkt, damals: Bismarck und Moltke. Den Majestäten vis-à-vis, vom Orchester links, sitzen die Botschafter mit ihren Gemahlinnen, hinter diesen das ganze diplomatische Korps mit seinen Damen, alle Minister und sonstigen hohen Würdenträger, sowie hochgestellte Offiziere. Dem Orchester entgegengesetzt jüngere Offiziere mit ihren Frauen und andere Gäste, die sich bis in die angrenzenden Galerien und Gemächer verteilen, welche der Hof bei seinem Kommen passiert. Obwohl das Konzert erst um 10 Uhr beginnt, muß alles im Saale schon um halb neun auf seinen Plätzen sein, und nur wir Sänger hatten den Vorzug, des aparten Eingangs wegen später kommen zu dürfen. Da alles stehen muß, waren die Damen oft schon totmüde, ehe es anging, und wirkliches Erbarmen faßte mich immer, wenn ich die kleine chinesische Botschafterin stehen sah und ihrer kleinen Stümpfe von Füßen gedachte, die sich auch nicht setzen durfte, aber gewiß grenzenlose Qualen ausgestanden haben mag.

Pagen in Rokokouniform tragen die Courschleppe der Kaiserin und kgl. Prinzessinnen. Alle anderen Damen tragen ihre Courschleppen über den Arm geschlagen, selber. Die Pagen legen, nachdem die Majestäten Platz genommen, die Schleppen über die Thronstufen und nehmen dicht vor dem Orchester Stellung. Das Konzert beginnt, sobald vom Oberzeremonienmeister das Zeichen zum Anfang gegeben.

Während der Pause sprechen Ihre Majestäten zuerst mit den Botschaftern und ihren Frauen – auch das ist nach Zeit und[231] Politik eingeteilt – dann mit allen denjenigen Persönlichkeiten, die besonders ausgezeichnet werden sollen. Der Kaiser ging, wenn dieser Pflicht genügt war, linksseitig in die hinteren Reihen zu den Damen der Diplomatie, um diese oder jene aufzusuchen, und kam dicht am Orchester zurück, wo er uns Künstler stets gütig begrüßte, nachdem er Hofkapellmeister Taubert zuerst die Hand gereicht hatte. Wenn alles wieder plaziert war, kam der zweite Teil des Konzertes. Nach Schluß desselben blieb alles stehen, bis sich der Hof durch Begrüßung sämtlicher Gäste in corpore wieder entfernt hatte und alles auseinanderstob.

Die Kaiserin war schon immer in den Proben anwesend, die am selben Vormittage im Schlosse stattfanden, um sich über alle Arrangements genau zu unterrichten. Hier begrüßte uns die hohe Frau und erkundigte sich nach allem und jedem. Hofkapellmeister Taubert reichte die Programme ein, und die Kaiserin wählte, was ihr am besten für ihre Gäste zu passen schien.

In diesen Konzerten wurden nur große Stücke gemacht. Anders war's in den kleinen Donnerstagskonzerten, die im Palais der Majestäten, Unter den Linden, stattfanden. Dort ging's sehr gemütlich zu. Die Gesellschaft saß zu 6–8 Personen an kleinen runden, mit köstlichen Blumen geschmückten Tischen. Dicht vor der Kaiserin stand das Klavier, so dicht, daß man kaum Platz zu einer würdigen Verbeugung hatte. An einem Tische präsidierte also Kaiserin Augusta, am nächsten der Kaiser, am dritten der Kronprinz, am nächsten die Kronprinzessin. Dort Prinz und Prinzessin Karl, Bruder und Schwester Ihrer Majestäten, und überall die Damen und Herren des Hofstaates verteilt nach Rang und Sitte.

Prinzessin Karl war eine der liebenswürdigsten Frauen unseres Kaiserhauses und zeichnete mich immer ganz besonders aus. Sie war die einzige, die immer frische Blumen in Händen hielt, die geschmackvollste und eleganteste Toilette des ganzes Hofes trug; sie liebte Tiere und ging stets in Begleitung dreier großer, weiß und schwarzer russischer Windhunde spazieren. Auf der Straße oder in Wiesbaden, wo ich ihr oft begegnete, sprach sie mich besonders gerne an. Dann nahm sie immer ihren Schleier ab, ein Feingefühl, das ich ihr besonders hoch anrechnete, weil ich es[232] gelehrt bekam und mich nun doppelt freute, die zarte Rücksicht hier in die Tat umgesetzt zu sehen. Sie wußte mir stets Angenehmes und Liebes zu sagen, und ihr bewahre ich ein dankbares Andenken für die Güte zu mir und ihre Tierliebe insbesondere.

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 230-233.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Mein Weg
Mein Weg
Mein Weg
Mein Weg
Mein Weg