5.

[206] Waren wir durch Mamas feinen Geschmack und feinste musikalische Bildung in klassischer Musik wie: Händel, Gluck, Mozart, Haydn, Beethoven, Weber, Schumann und Schubert aufgezogen worden, so konnten wir unsern musikalischen Horizont in Leipzig noch bedeutend erweitern, wo soviel gute Musik gemacht wurde. Im alten Gewandhaus besonders war klassische Musik eine Reliquie, einer Hostie vergleichbar, die nur von Geweihten gefaßt, nur von denen genossen wurde, die in dieser höchsten, von Herzen kommenden, zu Herzen sprechenden unmittelbaren Kunst aufgingen. Was ich von dieser Heiligkeit jemals empfing, sprach und sang weiter in meinem Leben, in meiner Kunst. Die dortigen Lehren waren also sehr wichtig für meine Zukunft; jede dieser Lehren ein Gewinn für mein Seelenleben auf dem Wege zu einem bessern Menschen und zur läuternden Beurteilung des natürlichen Gefühls. An den Stätten wo Goethe, Schiller, Sebastian Bach gewandelt waren, fühlte man sich gehoben von Ehrfurcht, erfüllt von tiefer Rührung.

Unsre Theaterverhältnisse hatten sich immer mehr zugespitzt. Unmäßige Artikel gegen Laube machten böses Blut und reizten die Studentenschaft zu Skandalsucht. In den Vorstellungen[206] wurden Rufe laut; man verlangte, daß Strakosch und Claar entlassen würden. Alles wartete auf den Ausbruch der Katastrophe. Dazu schien die im alten Theater angesetzte Vorstellung: »Bürgerlich und Romantisch«, worin auch Claar beschäftigt war, wie geschaffen. Und kaum war Claar aufgetreten als der Ausbruch erfolgte. Es wurde gezischt, gepfiffen, gejohlt. Immer wieder versuchte Claar seine Rolle anzugehen, doch die energischen Rufe: »Claar hinaus, Claar abtreten, entlassen«, ja sogar: »Laube Direktion niederlegen« erschollen so hartnäckig, daß Claar nichts andres übrig blieb, als abzugehen, worauf wieder – diesmal aus Vergnügen – gejohlt und applaudiert wurde. Hermine Delia, Claars Verlobte, fiel auf der Szene in Ohnmacht, der Vorhang mußte fallen. Nach einer Zeit erschien der Regisseur und annoncierte, daß jemand anderer Claars Rolle übernommen habe, worauf sich die Gemüter beruhigten und das Stück zu Ende gespielt wurde. Da weder Claar noch Strakosch entlassen wurden, wiederholten sich auch im neuen Theater derartige Szenen. Laube riß dann aber die Geduld, er kündigte die Direktion für den 1. Juni 1870. Man hoffte bis dahin einen geeigneten Vertreter zu finden, bot Laube die Direktion verschiedentlich wieder an, doch blieb dieser fest in seinem Entschluß und ging – von uns Künstlern und vielen aus dem gebildeten Publikum aufs tiefste betrauert. Welcher Jammer um das von ihm so prächtig zusammengeführte und studierte Ensemble, das auf dem besten Wege war, das erste Schauspiel Deutschlands zu werden!

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 206-207.
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