6.

[207] Vergebens hatte ich den ganzen Winter Mamachen himmelhoch gebeten, alles zu versuchen, ihren Kontrakt sobald als möglich zu lösen. Sie sollte recht schlecht spielen, riet ich ihr, damit man sie gehen ließe. Das täte sie ohnehin schon, schrieb sie mir zurück, denn es würde ihr schon sehr schwer und sie ängstigte sich bei jedem großen Solo. Gekündigt hatte sie ja längst. Es half aber alles nichts, der Kelch mußte bis zur Neige geleert werden. Der 1. Mai 1870 erlöste sie endlich von ihren 16 Jahre mit Geduld getragenen Fesseln, und am 12. holte ich mir unser liebes Mamachen,[207] unser ganzes Glück, mitsamt der grauen Mietzekatze, unserm alten Dompfaffen und der goldenen Harfe aus Prag nach Leipzig. Als sie ihre alten Möbel verkaufen wollte, bot man ihr so entsetzlich wenig dafür, daß sie der Trödeljüdin sagte: »dann verschenke ich sie lieber«. »No wissen Se was, schenken Sie se mir!« antwortete ihr dieselbe. Tatsächlich wurden alle an arme Bekannte verschenkt, und selbst das alte Schlafsopha mit dem »Familienloch«, wie ich die Stelle nannte, auf die sich mit Vorliebe alle unsre Bekannten setzten, fand einen dankbaren Abnehmer. Ich entführte Mama im Triumph. Der Abschied von Prag wurde ihr schwer genug; fürchtete sie doch noch immer gar zu sorglos ihre Stellung aufgegeben zu haben. Meine beiden Bleikammern hatte ich mit drei größeren, sehr hübschen, nicht zu heißen und weniger kalten Zimmern nach der Ostseite vertauscht, wo wir alle drei glücklich vereint, einem neuen Leben entgegensahen. Daß Mama viele Tränen nachgeweint wurden, brauche ich nicht zu sagen, denn jeder, der sie kannte, hatte einen Helfer, einen Schutzengel in ihr gefunden, den er bei ihrem Fortgang verlor. Aber auch sie schied mit geteilten Gefühlen von einem Ort, der uns so lange heimatliche Unterkunft gewährte, wo eine für sie so sorgenvolle, für uns so glückliche Zeit dahingegangen war, und wir doch ein ganzes Herz voll Anhänglichkeit zurückließen für alles und alle, die uns lieb gewesen, und denen auch wir nicht gleichgiltig sein konnten.

Nachdem Laube bestimmt erklärt hatte, die Direktion des Leipziger Theaters keinesfalls wieder aufnehmen zu wollen, war ich, gleich allen andern Mitgliedern, meines Kontraktes entbunden. Berlin meldete sich sofort, und ich sagte zu, meinen Kontrakt am 1. August daselbst anzutreten, sobald ich Hülsen nochmals würde gesprochen haben. In meinem Berliner Kontrakt entdeckte ich nämlich folgende Klausel: »Der Kontrakt tritt in Kraft nach Ablauf des Kontraktes mit der Leipziger Theaterdirektion.« Laube war nicht genannt, ich hätte also noch 20 Jahre dort bleiben können. Hülsen sah das auch ein, und da seit dem Berliner Abschluß bereits ein Jahr verstrichen war, erhielt ich sofort die Gage des zweiten Kontraktjahres, während man für das dritte Jahr eine erhöhte einstellte.[208]

Die Jagd nach der Direktion hatte begonnen. Unter den vielen, die sich meldeten, war auch Direktor Emil Fischer aus Danzig, der nach bei mir eingezogenen Erkundigungen eines Tags in Leipzig eintraf und sich im »Hotel de Prusse« einmietete.

Riezlchen, die nach einer sehr schweren Brustfellentzündung mit Mama nach Bad Elster gereist war, hatte uns viel Sorge gemacht. Zu meiner enormen Beschäftigung erhielt ich auch noch Partien zum Vorstudium aus Berlin geschickt, ich konnte mich fast gar nicht um Emil Fischer bekümmern, dem es, wie ich bemerkte, in Leipzig sehr gut gefiel.

Nun brach auch noch der Krieg aus, und alle andern Interessen wichen diesem teils ersehnten, teils gefürchteten Ereignisse.

Wir aber spielten weiter. Friedrich Haase und Ferdinand von Strantz war die Direktion zugefallen, die sie am 1. Juni antraten. Beide Herren beschworen mich unaufhörlich, nicht nach Berlin zu gehen, sondern in Leipzig zu bleiben, wo ich's viel besser haben sollte. Ich dachte nicht daran. Als Abschiedsrolle hatte man mir die Martha ausgesucht. Meine Garderobe fand ich bekränzt, ebenso den Toilettentisch der »Lady Harriet«. Zwölf Chordamen, im Halbkreise gruppiert, hielten große weiße Buketts in Händen, aus denen sich 12 rote Buchstaben abhoben, die zusammen meinen Namenszug ergaben. Jeder auftretende Künstler brachte mir Geschenke, Blumen oder Kränze. Am Schluß der Vorstellung mußte ich noch einige Worte an das Publikum richten, ehe man mich entließ. Nach der Vorstellung versammelten sich auf der Bühne alle meine Kollegen. Direktion und Regie hielten Ansprachen. Alles schien darauf angelegt zu sein, mir den Abschied recht schwer zu machen. Losreißen aber mußte ich mich trotz aller Tränen, Liebe, Anerkennung und Kollegialität. Mein Ziel war höher, der Weg noch weit, ich mußte und durfte keine Zeit verlieren.

Schon hatte ich Zeitverlust genug zu beklagen, durch die große Geselligkeit, in deren Strudel ich gegen meinen Willen, durch die Liebenswürdigkeit unsrer Freunde und meine plötzlich erwachte sorglose Heiterkeit geraten war, ohne mir die geringste Rechenschaft davon zu geben, wie wenig sie mir taugte. Das lange Aufbleiben bei meiner anstrengenden Berufstätigkeit, den anstrengenden Proben, die mir ohnehin jeden Morgen raubten, förderten weder[209] meine Gesundheit noch mein Studium. Ich hätte meine Kräfte besser verwenden oder sparen sollen. Aber ich war lange genug menschenscheu gewesen, und wurde auch bald genug wieder untauglich für jede Art von Gesellschaft, meiner Kunst zuliebe, die mir schließlich alles ersetzte, was ich hier oder dort verloren zu geben gezwungen war. Ich mußte mir also sagen, daß auch diese Zeit notwendig war für das junge Gemüt des Menschen sowohl als der Künstlerin, das doch der Lebensfreude nicht ganz entbehren durfte.

Herr von Strantz, der seine Berliner Wohnung mit Mobiliar gern los sein wollte, offerirte sie mir samt seinem dienstbaren Geist, eine Offerte, die mir sehr gelegen kam und mich vorderhand aller Wohnungssucherei überhob. Die letzten einschneidenden Verhältnisse hatten uns alle sehr angegriffen, ich hatte wirklich eine Erholung nötig. Während ich mit Riezl auf vierzehn Tage nach dem damals noch ganz stillen Reinhardsbrunn in Thüringen ging, blieb Mamachen in Leipzig, um alles für den Umzug nach Berlin zu rüsten. Von Reinhardsbrunn machte ich allein per Wagen einen Ausflug nach der Wartburg und genoß, ganz in mich gekehrt, zum erstenmal den mächtigen Eindruck der Burg, des Tals, des Ortes, der ganzen lieblichen Gegend, die mich Scheffel und Wagner seit lange lieben gelehrt hatten.

Von diesem Ausflug erst wenige Stunden nach Leipzig zurückgekehrt, erhielt ich ein Telegramm folgenden Inhalts: »Wo ist mein Mann? Weib und Kinder verhungern, schaffe mir meinen Mann. Verzweifelt Rosa.« Das Telegramm war drei Tage unterwegs gewesen, von Danzig bis Leipzig. Wir waren sprachlos und zerbrachen uns den Kopf, was wohl geschehen sein konnte? Hatten wir Fischer doch seit Wochen Lebewohl gesagt und ihn zu Hause geglaubt. Er konnte also nur krank oder ihm ein Unglück zugestoßen sein. In Angst und Eile fuhr ich zum Hotel und wurde vom Portier in den Garten gewiesen. Dort saß der, wie ich mir einbildete, schwer kranke, liebe Direktor mit mehreren Herren beim Diner, eine große Bowle vor sich, und die hellen Tränen schöner Lustbarkeit flossen ihm gerade über das lachende Gesicht. Wieder war ich sprachlos; aber nicht lange. Es hatte sich meiner ein furchtbarer Zorn bemächtigt, den seine Heiterkeit und die mir[210] angebotene Erdbeerbowle nicht abschwächen konnten. Ich nahm ihn beiseite, zeigte ihm die Depesche und erhielt die natürlichste Antwort der Welt: daß er nicht bezahlen und darum auch nicht fortkonnte!!! Am Nachmittage machte ich's mit Hilfe eines uns beiden bekannten Mannes möglich, die Schuld zu begleichen, setzte meinen lieben Direktor in den Zug, drückte ihm sein Billet und seinen Gepäckschein in die Hand, schrieb an unsre liebe Rosa alles, was ich wußte, und hörte viele, viele Jahre nichts mehr von der armen »hungernden Frau« und ihrem gar zu sorglosen Gemahl.

Nur wenige Tage später saßen Mamachen und ich mit unserer kleinen Menagerie ebenfalls im Zuge nach Berlin, um Europa erschütternden Ereignissen entgegenzufahren.

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 207-211.
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