1.

[39] Nun ich bei Hülsen unter die Zugvögel rechnete, nahm ich diesmal meinen Flug nach London, um beim alten Impresario Colonel Mapleson ein Gastspiel zu absolvieren, das mich beim Publikum in Respekt setzen sollte. Mapleson unterhielt seit Jahrzehnten eine berühmte italienische Opernstagione, erst in Covent Garden, dann im neuen Her Majesty's Theatre, in Haymarket. Er versammelte alljährlich die größten Stars, verstand viel von Kunst, wirtschaftete meist mit Unterbilanz, und obwohl immer in Geldnöten, wußte er sich doch stets mit Geschick aus der Affaire zu ziehen. Er genoß Vertrauen bei Publikum und Künstlern, wenn auch viele so vorsichtig waren, sich ihre Honorare voraus bezahlen zu lassen. Gewöhnlich holte ich mir die meinen am Tage einer Patti-Vorstellung, wartete im Bureau geduldig, bis das Geld an der Tageskasse eingegangen war, und erhielt sie dann prompt ausbezahlt. An geordnete Verhältnisse gewöhnt, schien mir diese Stagionenwirtschaft der englischen Hauptstadt recht unwürdig. Mit ehrlichem Erfolge hatte ich 2mal Traviata und 2mal Philine in Mignon gesungen. Die Mignon war zu damaliger Zeit Christine Nilsons beste Rolle; als Margarethe war sie unweiblich, als Elsa benahm sie sich wie ein verkleideter Student. Im zweiten Duett mit Ortrud irrte sie sich, kam ganz heraus, und anstatt sich unauffällig wieder hineinzufinden, lachte sie laut, kehrte dem Publikum den Rücken und sang bis zum Auftritt Lohengrins keinen Ton mehr. Ich konnte Christine Nilson nie mehr sehen, ohne mich ihres unwürdigen Benehmens zu erinnern. – Die einst so herrliche sammetweiche Altstimme der Trebelli war zum reinsten Baß heruntergegangen. Sie sang nur noch kleinere Rollen, wie z.B. den Friedrich in »Mignon«, der bei uns immer vom Tenor gegeben wird. Campanini war nicht nur ausgezeichnet als Lohengrin, Alfredo und Wilhelm Meister, er sang und spielte alles prachtvoll. Galassi, ein guter[39] Bariton, Arditi, ein gewissenhafter, vorzüglicher Dirigent. Diese drei letzten Künstler waren ernst zu nehmen, alles andere nicht immer, obwohl natürlich auch ganz ausgezeichnete Totalvorstellungen vorkamen, über denen ein besonders günstiger Stern waltete. Wenn mein Gastspiel auch nach außen hin strahlte, mir machte es nicht die erwartete Freude. Mapleson, der mir eine große Zukunft prophezeite, bat mich dringend, auszuharren, alljährlich wiederzukommen, weil der Engländer, sobald er sich an einen Künstler erst gewöhnt habe, diesem zeitlebens dankbar bliebe. Wer erst zehn Jahre hintereinander in London gesungen habe, brauche weder Stimme noch sonst etwas, der sei geborgen für alle Zeit. Er hielt mich für die einzig Prädestinierte, in die Fußtapfen der von England und ihm vergötterten Tietjens zu treten, und beschwor mich schon jetzt, Fidelio, Norma, Donna Anna und Valentine zu singen. Da ich aber fühlte, daß ich solchen Aufgaben noch nicht gewachsen, mußten wir beide die Zeit meiner Vervollkommnung abwarten.

Prinzessin Friedrich Karl hatte mir persönlich ein Handschreiben an ihre Tochter, die Herzogin von Connaught mitgegeben, Lord Ampthill und Graf Perponcher, wohl ein Dutzend an einflußreiche Persönlichkeiten. Die Herzogin empfing mich voller Liebenswürdigkeit im Buckinghampalast; Graf Münster, unser damaliger Botschafter, reagierte jedoch gar nicht, und alle andern Schreiben gab ich überhaupt nicht ab, weil Mapleson es für London – wo nur Gewohnheit regiert – für unnütz erklärte. »Gut singen« sei die beste Empfehlung.

Mama und ich wohnten in St. James Street, in einem kleinen französischen Hotel: Dieudonné. Wir hatten einen schönen Salon mit Balkon und ein Schlafzimmer im 1. Stock, schliefen in einem echt englischen Riesenbett zusammen, das uns beiden unbehaglich war. Lagen wir abends nebeneinander und falteten unsere Hände, so glichen wir auf ein Haar steinernen Ehegatten auf einem Sarkophage. Erst als wir uns einzelne Decken geben ließen, klärte sich die Situation. Vor uns hatte Anton Rubinstein das Appartement bewohnt, seine Zigaretten lagen noch darin. Saint-Saëns wohnte neben, ein spanischer Chansonettensänger Pagans, über uns. Fast die ganze Comédie française aus Paris, die seit mehreren Wochen schon Vorstellungen gab, war im Hause[40] einlogiert, und weiter einige französische Maler, darunter Mr. Poilpot, der sich aller verkommenen Hunde annahm und damit unser Herz gewann.

Madame Dieudonné, eine sehr heitere Witwe, wußte im Verein mit ihren Geschwistern ihren Gästen das Haus angenehm zu machen, das für uns nur manchmal zu lärmend war. Wie man sich denken kann, wurde viel Musik und oft auf Treppen und Gängen bis 2 Uhr nachts Konversation gemacht, obwohl laut polizeilicher Vorschrift das Haus punkt 11 Uhr geschlossen, die Eßräume verdunkelt werden mußten. Kamen wir nach Mitternacht aus der Oper, und die Schauspieler aus der Comédie, so aßen wir alle zusammen bei sorgfältig verschlossenen Läden, und nicht ein lautes Wort durfte gesprochen werden. An Tagen aber, wo kein Theater war, blieben wir nach dem Diner im winzigen Parlour beisammen, wo es dann laut und sehr lustig herging. Der übermütigste von allen war Saint-Saëns, der mich lebhaft an Hans von Bülow erinnerte, der ebenso ausgelassen sein konnte. Saint-Saëns fistelte die Arie der Rosine mit den verrücktesten Fiorituren und Trillern, daß man sich kugeln mochte. Er ahmte sie großartig nach, die »Rosinen« und ihre »Strakochonerien«, wie Rossini einst der jungen Patti bemerkt haben soll, als sie ihm seine Arie mit tausend Änderungen von ihrem Schwager Strakosch vorsang. – Pagans hatte eine ausgeleierte Stimme, doch interessierte mich die Art und Weise, wie dieser Spanier sang, aufs lebhafteste; die melancholischen Weisen erwärmten mich, in denen das in 1/4 Tönen gezogene Glissando dem Ohre eigentümlich reizvoll sich einschmeichelte, das wohl einzig den Spaniern eigen ist. – Die Franzosen trugen Szenen vor, und auch ich beteiligte mich mit deutschen Liedern, die mir Saint-Saëns begleitete.

London war mir nicht fremd. Shakespeare hatte mich jeden Stein und Fleck, jedes Haus, jede Straße darin kennen gelehrt von Jugend auf. Shakespeare! Durch ihn kannte ich London, begrüßte es wie einen Freund, wie altes Erinnern. Mit Zärtlichkeit hing ich daran – nein, an Shakespeare hing ich und an allem, was er uns je gegeben. In Museen und Galerien bereicherte ich mein Wissen; tagelang bewunderte ich einzelnes, prägte anderes meinen Gedanken ein. Dann wieder liefen wir viele Stunden lang[41] durch Richmond, Windsor, Virginia-Water usw. durch köstliche Gärten und herrliche Parks. London ist schön bei gutem Wetter und ernst. Was die Sechsmillionenstadt an Schrecklichem hervorbringt, widerte mich hier niemals in dem Maße an wie das, was ich in Paris sah. Die Gleichgiltigkeit des Engländers beruhigt und ermöglicht es, in der enormen Stadt »zu leben«. Dazu gehört persönlicher Wert und Mut, wenngleich der einzelne dort vielleicht noch weniger gilt als an anderen Orten. – Aber die Nebel, die Nebel! die legen sich um Kopf und Herz, sie ersticken jede Freude. Selbst jetzt, im Juni, wälzten sich mittags manchmal dunkle oder gelbe schwefelmassige Wolken ins Zimmer, in dem man selbst bei Licht nichts zu arbeiten vermochte. Die Saison war darum auf die Sommermonate verlegt, weil die Nebel im März und April noch viel intensiver sind. Zu der Zeit kann ein Gastgeber gewärtig sein, 50–100 Gäste nachts in seinem Hause behalten zu müssen, weil sich keiner – weder zu Fuß noch zu Wagen – auf den Straßen zurecht zu finden weiß. Man steht vor seinem Hause und findet den Eingang nicht! – Die furchtbaren Nebel trieben uns denn auch fort, wir sehnten uns nach blauem Himmel, deutschem Boden, deutschen Verhältnissen.

Dennoch kam ich Maplesons Einladung im Mai 1881 wieder nach und sollte nach den bereits gesungenen Rollen auch noch die Aïda singen. Um Mamas Erkältung zu kurieren, zogen wir auf acht Tage nach Brighton, wo ihr Husten nur noch schlechter wurde. Nun ließ ich zum Entsetzen Maplesons London und Aïda laufen, um Mama nach Marienbad zu bringen, wonach sie sich sehnte. Vorher mußte ich aber noch in einem Monstre-Künstlerkonzert in Albert Hall mitsingen zum Benefize Maplesons, das ihm alljährlich eine Riesensumme einbrachte, bei dem alle Künstler unentgeltlich mitwirkten. Diesmal sangen: Patti, Nilson, Gerster, Trebelli, meine Wenigkeit und Frl. Tremelli, recte Tremel, eine Wienerin, die mich frug, ob ich die Halle kenne? Wenn nicht, so sollte ich vor meiner Piece einmal hineinschauen, sonst fiele ich um! – Ich wußte, daß 8000 Menschen drinnen waren, sah nicht vorher hinein und fiel auch nicht um, sang aber meinen Walzer, so gut ich konnte. – Vor unserer Abreise hatten wir auch noch die Freude, meinen alten Onkel Pauli aus Kassel in London zu[42] begrüßen, der zum Besuch seines verheirateten Sohnes dort weilte, und dem wir in der Riesenstadt ganz zufällig beim Tower begegneten, trotzdem er in Canonbury und wir am andern Ende der Welt wohnten.

Riezl, die mich während meines Urlaubs vertreten hatte, war jetzt auch nach London gekommen, und nun brachten wir Mama nach Marienbad. Mir war der Aufenthalt in Bädern immer schrecklich gewesen; so folgten Riezl und ich einer plötzlichen Eingebung und fuhren direkt auf acht Tage nach Rom. Dort genossen wir, was Rom einzig zu bieten vermag. Was aber sind acht Tage für Rom? Wir waren nicht planmäßig vorbereitet und auch nicht reif genug dafür. Heute, wo ich es wäre, diesen unerschöpflichen Genuß in Ruhe durchzuleben, fürchte ich mich vor dem Tierelend Italiens, was jeden Sehnsuchtsgedanken dorthin in mir zuschanden macht. Dies Paradies bleibt mir verschlossen; im Erinnern aber wirken damals Erschautes und Erlebtes vielleicht noch mächtiger auf mich als die moderne römische Wirklichkeit von heute.

Riezls Urlaub war zu Ende, wir mußten uns losreißen von Rom. Ein kleiner Betteljunge mit großen schwarzen Augen stand auf dem Perron, der uns stumm die Hand ans Kupeefenster ausstreckte, während er mit der andern frische Mandeln in den Mund steckte. Eine kleine Münze, die ich ihm hinwarf, verschwand in dem mit Flicken besäten und wieder durchlöcherten Jäckchen und blieb unauffindbar darin versunken. Immer noch sehe ich die schönen Augen, die stumm graziöse Bewegung des kleinen römischen Bettlers, den letzten römischen Eindruck.

Wolkenbrüche hielten uns in Franzensfeste gefangen. Niemand konnte oder wollte den Reisenden Auskunft geben, wie lange der unfreiwillige Aufenthalt dauern würde. Es spielten sich die komischsten Szenen ab. Ein Sachse z.B. wollte sich »ä bißchen die Gägend besähen«, ein anderer partout einen Zug ausfindig gemacht haben, der uns auf einer andern Strecke heimführen sollte, während allenthalben die Schienen unterspült in der Luft hingen. Wir suchten, um nicht im Wartezimmer unter den vielen Menschen zu nächtigen, durch die Gunst eines jungen Beamten ein I. Klasse-Kupee zu gewinnen, worin wir nachts, von Ungeziefer gepeinigt, fast verrückt wurden. In Franzensfeste war alles ratzekahl aufgegessen,[43] da eine Menge Züge eingelaufen waren und alles hier zusammengepfercht blieb. Als wir nach fast 36 Stunden mit Umgehen der zerstörten Strecke weiter befördert wurden, machten die hungrigen Reisenden einen Ausfall auf Stertzing und stürmten das Buffet. Irgendein Mitleidiger gab uns ein Stück von seinem erbeuteten Braten und Brot ab; den schönen Durst stillten wir erst in München mit bestem Eberlbräu.

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 39-44.
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