2.

[44] Der Winter 1880 brachte mir eine ersehnte Aufgabe: die Venus im Tannhäuser. Wie lange hatte man mich darauf warten lassen. Lange Jahre war sie in unmöglichen, dann in unzulänglichen Händen. Wußte man denn gar nicht, was man dieser Rolle schuldig war? Wo blieb die geistige Kraft? wo das göttliche Schwelgen in Schönheit, Liebesreichtum und üppigem, verschwenderischem »Sichhingeben«? Man merkte nichts von Triumph, Glück, Verzweiflung oder Zorn. Nichts hörte man als eine Handvoll Noten und sah im besten Falle – eine geschminkte Puppe! Das war doch anders, als Albert Niemann und ich die Szene spielten und sangen! –

Nur wenige Tage später ging Rubinsteins »Nero« mit Niemann, Betz, Mallinger und mir als Poppäa in Szene, eine schwierige aber dankbare Aufgabe für mich, die auch anerkannt wurde, doch sich leider nicht lohnte, weil die Oper nur sechsmal gegeben wurde. – Februar 81 brachte die Neueinstudierung von Mozarts »Idomeneo« mit Niemann, Betz, Brandt, Voggenhuber und mir; eine großartige Vorstellung von seiten meiner Kollegen. »Der Widerspenstigen Zähmung« von Götz kam am 18. März zur Erstaufführung, in der ich Katharina war, und besonders Fricke als Baptista eine mit Humor gewürzte, feinste Leistung bot. Die Oper verblieb auf dem Spielplan. – Man sollte meinen, daß ich mich weder über zu geringe Beschäftigung, noch über schlechte Rollen zu beklagen gehabt hätte. Dennoch hatte ich Ursache dazu, denn man spielte mit mir wie mit einer zweiten Kraft. Die meisten guten Rollen erhielt ich doch nur dann erst, wenn sie andere nicht singen konnten oder aus andern Gründen ablehnten; und plötzlich kam es zwischen Hülsen und mir zu einem offenen Bruch.

Betz hätte gerne schon lange den Hoëel in Meyerbeers »Dinorah gesungen und bat mich, Hülsen die Oper mit mir, als[45] Dinorah, vorzuschlagen. Das hatte ich auch getan, Hülsen mir aber geantwortet, daß er den D... nicht geben würde. Es war nicht mehr die Rede davon gewesen, als ich eines Tages las, daß die königl. Oper Meyerbeers »Dinorah« einzustudieren gedächte. Sobald ich Hülsen besuchte, sprach ich ihm meine Freude darüber aus, worauf er bemerkte, daß nicht ich, sondern Frl. Em. T. die Rolle singen würde. Mich erhebend, sagte ich kurz: »Dann Exzellenz, erlauben Sie wohl, daß ich meine Entlassung fordere«, worauf er: »Tun Sie, was Sie glauben tun zu müssen«, antwortete. Em. T. war ein schönes junges Mädchen, italienischer Herkunft, für Minni Hauck engagiert, uns von Wien überkommen, wo man sie als Sängerin nicht gebrauchen konnte. Die dortigen Kapellmeister hatten verschiedentlich auf den Proben gesagt: »Jetzt kommt der Triller, den Frl. T. erst lernen wird« und anderes mehr. Ich muß vorausschicken, daß sie nicht nur schön, sondern auch ein liebes Mädchen war, was aber nicht verhinderte, daß die kleine Stimme wie zerbrochenes Glas klang, und daß sie weder gesanglich noch schauspielerisch den geringsten Anspruch auf Künstlerschaft machen konnte, vielleicht gar nicht selber machte, denn sie war bescheiden. Schon bevor sie ihr Engagement antrat, hatte man mir Blondchen, Despina usw. genommen, ohne eine Ahnung zu haben, ob E.T. sie überhaupt würde singen können. Und sie, die mir künstlerisch so untergeordnet, sollte nun die Dinorah singen, die Oper, die man eben noch als D... bezeichnet hatte! Sofort erbat ich bei Sr. Majestät dem Kaiser meine Entlassung, indem ich ihm die Gründe auseinandersetzte, bat Hülsen, durch dessen Hände mein Brief zu gehen hatte, mein Gesuch zu überreichen und mir das Resultat so schnell als möglich bekanntzugeben. Indessen vergingen viele Wochen, ohne daß mir eine Antwort in einer oder der andern Form zuteil geworden wäre. Da mir das Schweigen endlich peinlich ward, ich mich gern mit jemand ruhig und objektiv besprechen wollte, bat ich unsern alten Kollegen Fricke, ob er mich in einer für mich dringenden Angelegenheit besuchen möchte. Andern Tags trug ich ihm alles vor und bat ihn um seinen Rat. Fricke antwortete mir mit den sehr merkwürdigen Worten: »Ja, wissen Sie denn nicht, was über Sie in der Zeitung steht?« – »In welcher Zeitung« – »Nun, im ...« und nannte den[46] Namen. »Was« frug ich. »Ja, das kann ich Ihnen nicht gut sagen; besorgen Sie sich das Blatt von dem und dem Tag ungefähr.« – Fricke ging und ich stürzte – obwohl es Sonntag war – ins Bureau des Blattes am Gensdarmenmarkt. Den Besitzer kannte ich aus Gesellschaften. Im Bureau war nur ein Diener anwesend, der mir auf meinen Wunsch einen ganzen Stoß Zeitungen vorlegte. Ich griff aufs ungefähr hinein, und schon hatte ich die Notiz in Händen. Sie lautete: »Betreffs des Entlassungsgesuchs des Fräulein Lilli Lehmann ist vom Kaiser noch keine Entscheidung gefällt. Wir glauben übrigens erwähnen zu sollen, daß es allem Anscheine nach hauptsächlich Personalverhältnisse sind, welche diesem Entlassungsgesuch zugrunde liegen, und welchem die Frage einer Rollenbesetzung der Hauptsache nach nur zum Vorwande diente; Fräulein Lehmann fühlt sich recht leidend und sieht sich gezwungen, der Bühne eine Reihe von Monaten hindurch fernzubleiben; sie wird dann ohne Frage wieder in der Lage sein, zur Bühne zurückzukehren. Sie hat vielleicht unrecht getan, das Entlassungsgesuch einzureichen, da man ihr den notwendigen Urlaub, wie die Dinge liegen, ja doch nicht verweigern konnte. Daß das Entlassungsgesuch abschläglich beschieden werden wird, haben wir schon erwähnt.« – Am ganzen Körper zitternd, lief ich sofort damit zu Justizrat Laué, ihn um Rat zu fragen. Laué antwortete mir, nachdem er gelesen: »Da können Sie gar nichts tun; es steht absolut nichts darin, wobei man ihn fassen könnte; zwischen den Zeilen kann man natürlich lesen, was man will.« – »Was soll ich dann tun? ihn hauen?« – »O, das werden Sie nicht!« – »Gewiß werde ich das, Herr Justizrat, denn wie soll ich mir Gerechtigkeit verschaffen, wenn ich den Verleumder nicht verklagen kann?« – Der Justizrat lächelte, konnte mir aber nicht helfen. So ging ich schweren Herzens nach Hause und teilte meiner Mutter alles mit, die natürlich außer sich war.

Andern Tags ging ich wieder auf die Redaktion, der Chefredakteur und Besitzer war nicht anwesend; am nächsten Tage ebensowenig. Auch am dritten Tage wurde mir derselbe Bescheid, worauf ich ganz empört fragte: »Der Herr ist wohl nie zu treffen?« Man zuckte die Achsel, und ich mußte wiederum unverrichteter Sache heimgehen. Am vierten Tage wollte ich eben nochmals[47] mein Glück versuchen, als mir beim Fortgehen ein junger Hofschauspieler, Stockhausen, gemeldet wird, den ich abweisen ließ. Herr Stockhausen bat nochmals dringend, vorgelassen zu werden. Ich ließ ihn also eintreten und bitten, sich kurz zu fassen, da ich fortmüsse. Herr Stockhausen, den ich nur von der Theaterloge kannte, machte mir im Begriff, Berlin zu verlassen,–ich weiß eigentlich nicht warum–einen Abschiedsbesuch. Die Zeit drängte, ich ging mit Stockhausen die Treppe hinunter, und er begleitete mich ein paar Schritte. Dabei sagte ich ihm schließlich von meinen mißglückten Versuchen, den Herrn des Blattes zu treffen, und wie ich eben wieder im Begriffe sei, ihn von neuem aufzusuchen. Herr Stockhausen bittet, mich begleiten zu dürfen, ich lehne dankend ab. Wie er aber in mich dringt und meint, daß es doch besser wäre, unter männlichem Schutz den Weg zu unternehmen, gebe ich endlich nach und nehme seine Begleitung an. Diesmal hatte ich mehr Glück. Als ich an der Ecke des Gensdarmenmarkt die Gegend überblicke, sehe ich den Herrn Chefredakteur vor mir un Bürohause verschwinden. Ich laufe ihm nach, erwische ihn auf der Treppe, stelle ihn und sage: »Ich habe mit Ihnen zu reden!« Da er an eine Flucht nicht mehr denken konnte, bat er mich, hinaufzukommen, nachdem ich Herrn Stockhausen ihm vorgestellt. Die Herren im Büro machten lange Gesichter und mochten wohl ahnen, daß sie sich auf etwas Besonderes gefaßt machen durften. Als wir in der Stube des Chefredakteurs und Besitzers Platz genommen, begann ich die Inquisition:

»Hier, diese Notiz ist in Ihrem Blatte erschienen!«

»Ja, es tut mir furchtbar leid, daß dieselbe Aufnahme gefunden hat.«

»Von wem ist sie geschrieben?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wer ist der verantwortliche Redakteur?«

»Ich.«

»Wie kommt die Notiz ohne Ihr Wissen in das Blatt?«

»Das weiß ich nicht.«

»Da Sie der verantwortliche Redakteur sind, mußten Sie sie doch gelesen haben?«

»Jawohl.«[48]

»Wollen Sie die Sache widerrufen?«

»Gewiß, aber–«

»Wollen Sie die Notiz widerrufen, frage ich, und auch in allen anderen Zeitungen, in welche sie übergegangen ist?«

»Erlauben Sie, dieser Ton –«

»Sie haben gar nichts zu sagen, als ob Sie widerrufen wollen oder nicht; der Ton ist, wie er auf Ihre Notiz gehört. Wollen Sie also?«

»Aber –«

und da konnte ich nicht mehr an mich halten und ohrfeigte den Elenden für die bodenlose Gemeinheit, die er mir und meinem Stande angetan, glaubte antun zu dürfen, ohne sich verantworten zu müssen. Mich umdrehend, fühle ich – nur einen Augenblick – eine Hand an meinem Halse, gleich darauf höre ich etwas krachen. Ohne mich umzusehen, schritt ich hocherhobenen Hauptes, ohne Wort, ohne Gruß durch das Nebenzimmer. Auf der Straße angelangt, brach ich in einem Weinkrampf zusammen. Herr Stockhausen führte mich an eine Droschke, erzählte mir noch, daß der Unwürdige Hand an mich legen wollte, er ihn aber von hinten gepackt, auf ein Sofa niedergeschleudert habe. So war es doch gut, daß ich männlichen Schutz bei mir hatte, und pries den Zufall, der es so günstig gefügt.

Weinend kam ich zu Hause an und konnte nur schluchzend meiner Mutter zurufen: »Er hat sie!« »Um Gottes willen, Lilli, der wird sich an Dir rächen,« rief Mama. »Das wird er bleiben lassen,« erwiderte ich ihr und atmete erleichtert auf im Vollgefühl, eine gute Tat vollbracht zu haben.

Als ich mich abends von dem Schlage erholt hatte, ging ich ins Theater und erzählte es Niemann und Betz, die mich gleich umarmten. Auch in die Redaktion eines anständigen Blattes ging ich, um genauen Bericht aufnehmen zu lassen, damit keine Entstellungen in den Zeitungen erschienen. Bei Siechens wurde es zuerst bekannt, und wie ein Lauffeuer verbreitete sich das Gerücht durch die ganze Stadt. Andern Abends wurden im Büro des »interessanten« Blattes alle Fenster eingeschlagen und dem Chefredakteur eine Katzenmusik gebracht. Ganz Berlin war in Aufruhr. Hülfen ließ mich um meinen Besuch bitten, um mir im[49] Auftrage des Kaisers zu sagen, wie sehr sich derselbe – ohne die Ohrfeige geradezu sanktionieren zu können – über meinen Mut gefreut habe. Hülfen bat mich dringend, mein Entlassungsgesuch zurückzunehmen, er wolle allen meinen Wünschen gerecht werden, ich solle nur bleiben. Ich überlegte mir's zu Hause und stellte meine Bedingungen dahin, daß mir wirklich ein dreimonatlicher Ertra-Urlaub bewilligt wurde, den ich zu einem langen Gastspiel in Wien gebrauchte, den man mir nebst andern kleineren Nebenbedingungen gewährte. Das Entlassungsgesuch zog ich zurück, doch war der diesbezügliche Brief nicht aufzufinden und keinesfalls in die Hände des Kaisers gelangt.

Nun regnete es Briefe und Blumen in den nächsten Tagen. Aus allen Gauen Deutschlands erhielt ich Telegramme. Vereine, Studentenverbindungen bedankten sich für die »Heldentat«. Der Herr Chefredakteur hatte viel auf dem Kerbholz. Seit Jahren schon hatte er sich erfrecht, nicht mißzuverstehende Notizen und »interessante« Andeutungen in seinem Blatte zu bringen. Keine, selbst noch so hochstehende, der Offentlichkeit angehörende Dame, kein junges Mädchen der Aristokratie, Gesellschaft, des Theaters war vor seinen Verleumdungen sicher, und nicht selten war er dafür bedroht worden, aber leider nur bedroht; darum trieb er sein Unwesen ganz gewissenlos weiter, bis er in mir seinen Richter fand. Man war tatsächlich von einem Alp befreit, das merkte ich an den Tausenden von Dankesbriefen und Aufmerksamkeiten, die mir von allen Seiten zuteil wurden.

Wenige Tage darauf war in der Oper: »Der Widerspenstigen Zähmung« das Theater ausverkauft, ich in der Zwischenzeit nicht aufgetreten; das Publikum hatte sich alles aufgespart zu diesem Abend. Frl. Driese, die beim Aufziehen des Vorhangs als Bianca auf der Bühne saß, wurde statt meiner schon empfangen, ein Irrtum, dessen man bald inneward, als ich die Bühne als Katharina betrat. Nun brach er los, der Sturm! Applaus, Geschrei, nicht endenwollendes Blumen- und Kränzewerfen, bis ich vor Rührung und Erregung laut schluchzte und nur mit furchtbarer Energie meiner Aufregung Herr zu werden vermochte. Das Publikum nahm natürlich jede Gelegenheit wahr, Beziehungen zwischen der Affaire und dem Operntext zu entdecken. So brach ein förmlicher[50] Jubel los, als ich Petrucchio anstatt des verlangten Kusses eine kleine Ohrfeige verabreichte. Am Ende des Aktes erhielt ich ein wagenradgroßes Bukett weißer Rosen vom Sportklub mit einer Gerte daran – was nicht nach meinem Geschmack war – das mir den Dank übermitteln sollte für die bis dato ungerächt gebliebenen Angriffe auf aristokratische Kreise. Nach der Oper wünschten Studenten mir die Pferde auszuspannen, doch legte sich die Polizei dagegen ins Mittel. Bei meiner Heimkehr aus der Oper fand ich ein bekränztes Faß Kulmbacher Bier, das mir aus einer Studentenkneipe gesandt ward, deren Besitzer mich um den Handschuh bat, den ich ihm auch sandte, und den er lange unter Glas und Rahmen dort verwahrte.

Wie man sich leicht denken kann, hatte die Sache noch manches Nachspiel; langsam nur beruhigten sich die Gemüter, umso langsamer als alle antisemitischen Blätter gegen meine energischsten Wünsche, die Affäre so recht von Herzen ausnützten. Der Chefredakteur war tot für mich und ganz Berlin. Sein Grab grub er sich selbst.


»Und wenn er nicht gestorben ist

so lebt er heute noch.«

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 44-51.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Mein Weg
Mein Weg
Mein Weg
Mein Weg
Mein Weg

Buchempfehlung

Bjørnson, Bjørnstjerne

Synnöve Solbakken. (Synnøve Solbakken)

Synnöve Solbakken. (Synnøve Solbakken)

Vor dem Hintergrund einer romantisch idyllischen Fabel zeichnet der Autor individuell realistische Figuren, die einerseits Bestandteil jahrhundertealter Tradition und andererseits feinfühlige Persönlichkeiten sind. Die 1857 erschienene Bauernerzählung um die schöne Synnöve und den hitzköpfigen Thorbjörn machte Bjørnson praktisch mit Erscheinen weltberühmt.

70 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon