Reden und Essen müssen zusammenstimmen

[48] Es ist nicht ganz leicht, zugleich – und doch wieder nicht gleichzeitig – zu essen und zu sprechen. Mehr der Kuriosität als der Notwendigkeit halber führen wir hier den drastischen Spruch an, den eine alte Verwandte aus noch älterer Zeit überliefert hat:


Ißt du, so spreche nicht, sonst spritzt der Speisesaft

Dem Nachbar ins Gesicht, und das ist ekelhaft.


Gewiß. Es gibt aber noch feinere Regeln für das Nebeneinander von Sprechen und Essen. Erstens muß man sich bewußt sein, daß das, was man vorgesetzt bekommt, Speis und Trank also, ein Geschenk ist, und für Geschenke hat man zu danken. Dies soll nicht in überschwenglicher Weise geschehen. Wenn ein galanter Herr angesichts eines trockenen Kuchens ausruft: »Gnädige Frau, also ich bin schon oft bei Sacher gewesen, aber so etwas Exzellentes habe ich noch nie genossen!«, dann ist das nicht nur der Hausfrau peinlich, sondern auch den anderen Gästen.

Bestimmt ist es aber auch nicht richtig, wenn ein Gast – vielleicht sogar der Ehrengast – ißt und ißt und redet und redet, von Kant, von Benns späten Gedichten, von allerlei hohen Dingen, und dabei nie vom Essen Notiz nimmt. Ein solcher Mensch ist nicht etwa ein Vergeistigter, sondern schlicht ein Flegel.

Auch die Themen müssen stimmen. Daß man während eines Essens nicht gerade von einer Operation sprechen soll, und wäre sie noch so interessant und gefährlich, dürfte klar sein. In [48] seinen auf Korfu spielenden Jugenderinnerungen »My Family and Other Animals« berichtet der Zoologe Gerald Durrell von einem fröhlichen Familienfest. Zwei junge Männer versteifen sich darauf, sich während des Essens im Detail darüber zu unterhalten, wie die alten Ägypter beim Mumifizieren den Leichen mit kleinen Haken das Gehirn durch die Nase herausgezogen hätten – darauf die rührend tolerante Mutter: »Ihr Lieben, aber doch nicht gerade beim Essen.« Auch sonst sind nicht alle Themen gleich geeignet. Politik und Religion waren früher verpönt, weil sie leicht zu Streitereien führen; heute sind sie nicht mehr verpönt, führen aber immer noch zu Streitereien.

Man sollte auch nicht von etwas reden, was sich mit den einzelnen Speisen nicht verträgt. Was wir damit meinen, ist dies: Oft bleiben die Gäste, wenn sie glauben, das Essen genügend gewürdigt zu haben, noch längere Zeit beim Thema Essen oder Kochen. Es wird dann im Detail von verschiedenen Gerichten gesprochen, die der eine oder andere Gast einmal gegessen oder gekocht hat. Schon das ist nicht unbedingt richtig, weil es von der vorgesetzten Speise ablenkt. Vollends falsch wird es, wenn die beiden Gerichte, dasjenige im Gespräch und dasjenige auf dem Tisch, sich nicht miteinander vertragen. Da wird zum Beispiel eine süße Creme gegessen, und eine Dame erzählt dabei das Rezept für einen gesalzenen und geräucherten Schinken – oder umgekehrt. Viele Menschen – und es sind nicht die schlechtesten – haben eine so starke Phantasie, daß sie das, was ihnen in Worten vorgestellt wird, ebenso stark erleben wie das, was sie sich direkt und real zu Gemüte führen; für diese kommen die beiden »Geschmäcke«, der gehörte und der gekostete, in einen unerfreulichen Konflikt.

Quelle:
Leisi, Ilse und Ernst: Sprach-Knigge oder Wie und was soll ich reden? Tübingen 21993, S. 48-49.
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