Kunstgenüsse

[93] Bei »Kunstgenüssen«, also in Galerien, Konzerten, Theater- und Kinoaufführungen, gelten ähnliche Regeln wie auf Reisen. Das heißt, man soll sich hüten, den Kunstgenuß des Nachbars durch einen Schwall von Worten zu beeinträchtigen. Also keine erklärenden Vorträge, es sei denn, sie seien ausdrücklich bestellt worden, und keine lauten Werturteile, mit denen man den Nachbar in den Gefühlen oder in dem schwierigen Prozeß der Urteilsfindung stört.

In ihrem amüsanten Buch »Das Zürcher Konzertleben1 hat Margaret Engeler die Rituale und das Rollenverhalten von Konzertgängern der »besseren« Gesellschaft eingehend geschildert; hierzu gehören auch gewisse Sprachmuster vor dem Konzert, in der Pause und nachher. Als Individuum muß man sich diesen Mustern – Begrüßungen, einige Worte über den eigenen Eindruck, Abschiedsformeln – wohl anschließen, aber sie müssen kurz bleiben und wie gesagt nicht zu Vorträgen werden.

Wichtig ist es, dem Nachbarn die Freude nicht zu verderben. Schon vor mehr als 50 Jahren hat der Kulturkritiker Adolf Guggenbühl (damals unter dem Pseudonym Vinzenz Caviezel) in seinem heute noch gültigen Buch »Der schweizerische Knigge«2 den Fall angenommen, daß ein anspruchsvoller Intellektueller in einen kitschig-rührenden Film gerät, »in dem am Schluss unter schmalziger Orchesterbegleitung das Förstermaderl von dem flotten Husarenleutnant auf ewig Abschied nimmt, weil die Standesunterschiede doch gar zu gross sind«; für einen solchen Fall rät er dem Intellektuellen: »wenn dann rechts und links die Schnupftücher zum Vorschein kommen, dann äussern Sie bitte nicht Ihre Verachtung gegen diese Mentalität [93] durch Lachen oder durch laute, störende Bemerkungen.« Die anderen Besucher haben gleichviel bezahlt, möglicherweise sind sie intellektuell und künstlerisch sogar überlegen; aber sie haben diesen Film gewählt, um wieder »einmal nach Herzenslust weinen zu können, und das ist ihr gutes Recht.«

Diejenigen Konzert- oder Theaterbesucher, die mit ihrem vermeintlichen guten Geschmack auftrumpfen, scheinen oft keine Ahnung davon zu haben, daß der andere zu seinem andere Urteil ebensosehr, vielleicht mehr, berechtigt ist, und daß jemand, dem die Vorführung gefallen hat, von einem rüden Urteil gleich doppelt betroffen wird: Der Interpret, von dem der Zuhörer begeistert ist, wird angegriffen, und zugleich wird auch das Urteil des Zuhörers in Frage gestellt.

Wir erinnern uns an eine Aufführung von Racines Phèdre durch die Compagnie Jean-Louis Barrault in Zürich. Wir waren ergriffen und mußten die Tränen zurückhalten – als eine alte Dame neben uns sagte: Die haben ja Racine richtig massakriert – massacré. Es war eine kalte Dusche, ja schlimmer, weil nicht erfrischend. Wir fragten uns: Sind wir denn so dumm? kennen wir denn die Ansprüche nicht, die man zu machen hat?

Ein prononciertes Urteil führt, wenn die anderen nicht gänzlich einverstanden sind, meist zu Diskussionen. Dabei geraten oft die verschiedenen Generationen aneinander. Manche jungen Leute mögen eine mit vielen Gags angereicherte Shakespeare-Aufführung voll genießen, auf die die älteren entsetzt reagieren – andererseits mögen sie das, was die älteren voll genießen (zum Beispiel ein Stück mit »lieben« Menschen und glücklichem Ausgang), kitschig oder eine verlogene »heile Welt« nennen.

Der Antagonismus der Generationen besteht übrigens nicht nur in der Differenz des Urteils selbst, sondern auch darin, daß die einen – meist die Jungen – das Problem ausdiskutieren wollen, in der Hoffnung, die besseren Argumente werden siegen, während die anderen – meist die Älteren – der Meinung sind, über »Geschmäcker« sei nicht zu streiten, und eine Diskussion sei deswegen mehr oder weniger sinnlos. Und dann halten die [94] ersten die zweiten für auskneiferisch, umgekehrt die zweiten die ersten für aufdringlich. Toleranz ist also auf beiden Seiten vonnöten. Toleranz aber ist ein Kind der Phantasie. Wenn es mir gelingt, mich in den anderen Menschen hineinzuversetzen und seine Gefühle und Überlegungen nachzuvollziehen, dann werde ich ihn verstehen, dann bin ich zur Toleranz bereit.


ZU BEACHTEN


Den Kunstgenuß des anderen nicht durch Schulmeistern stören.


Keine extremen Urteile – weder gute noch schlechte – herausposaunen.


Toleranz ist ein Kind der Phantasie.

Quelle:
Leisi, Ilse und Ernst: Sprach-Knigge oder Wie und was soll ich reden? Tübingen 21993, S. 93-95.
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