Die Insinuation – schlimmer als Lüge

[177] Eine alte Journalisten-Anekdote – es spielt hier keine Rolle, ob sie erfunden ist oder nicht – zeigt sehr schön, worum es geht. Ein englischer Erzbischof reiste einmal (damals noch zu Schiff) nach Amerika. Bei der Ankunft fragte ihn ein Reporter: »Gehen Sie in New York auch in einen Nachtklub?« Der Erzbischof sagte: »Soso, gibt es das bei Euch auch?« Am nächsten Tage stand in der Zeitung: ERSTE FRAGE DES ERZBISCHOFS: GIBT ES NACHTKLUBS IN NEW YORK?

Man kann sagen: dieser Titel war keine Lüge; denn die erste Frage des Erzbischofs, als er in New York angekommen war, galt tatsächlich den Nachtklubs. Aber es war auch nicht das, [177] was man unter Wahrheit versteht. Der Erzbischof wurde nämlich als jemand dargestellt, der im schlimmen New York, weitab vom keuschen Canterbury oder York, so schnell als möglich ein paar nackte Mädchen sehen und sich einen tüchtigen Schluck Whisky genehmigen wollte. Dafür bestand in unserem Falle sicher nicht der geringste Anhaltspunkt. Der Erzbischof wurde also zu Unrecht (indirekt aber deutlich) der Inkontinenz bezichtigt, was bei einem Erzbischof sicher gravierender ist als bei einem gewöhnlichen Menschen; aber auch weitaus pikanter und deshalb als bessere »news« empfunden wird.

Dies ist nun ein klassischer Fall von Insinuation, von indirekter Andeutung, die den Leser oder Hörer mit Sicherheit auf eine bestimmte Fährte bringt. Die Herkunft dieses Wortes ist übrigens interessant: sinus ist der ›Bausch‹ der römischen Toga, die über die linke Schulter und um den linken Arm so geworfen wurde, daß quer über die Brust eine breite Falte lief; »insinuare« bedeutete: ›(eine geheime Mitteilung etc.) dem anderen in die Falte der Toga stecken‹, und von da aus hat sich dann die heutige Bedeutung entwickelt: jemandem etwas indirekt (anspielungsweise oder geheim) suggerieren.

Man muß anfügen, daß im Falle unseres Erzbischofs der Reporter und seine Zeitung vom Gesetz sicher nicht wegen übler Nachrede belangt werden konnten, weil ja nichts Ehrenrühriges direkt gesagt worden war. Das heißt, der Insinuator, wenn er seine Sache gut macht, ist gesichert; er sendet seinen Pfeil vom sicheren Lehnsessel aus, wo er auch nachher ebenso gemütlich sitzen bleibt. Denn er hat ja »nichts gesagt«, hat es »nicht so gesagt«, »hat es nicht so sagen wollen«. Das gibt der Insinuation etwas Unfaires, Hinterhältiges.

Welches sind die sprachlichen Mittel der Insinuation? Sehr oft wird sie durch Streichungen erzielt, in andern Worten: durch Weglassung von Kontext. Unter Kontext versteht man in der Linguistik die ganze situationelle Umgebung, die ein Stück Sprache begleitet, und die natürlich für die Interpretation einer Aussage sehr wichtig ist. Im Falle des Erzbischofs[178] wurde etwas für das sachlich korrekte Verständnis Notwendiges unterdrückt: die Tatsache nämlich, daß sich der Erzbischof ja nicht spontan nach den Nachtklubs erkundigt hatte, sondern erst als Reaktion auf ein Stichwort, das ihm der Reporter geliefert hatte. Deshalb war auch seine »Frage« gar keine richtige Frage, sondern nur eine höfliche »Quittung« für das ihm Gesagte.

Natürlich kann man sagen, der Reporter habe sich hier einfach einen Spaß erlaubt. Es ist aber ganz sicher, daß die Insinuation auch ernsthafte und weitreichende Folgen haben kann. Am wirksamsten ist sie natürlich, wenn sie in den Medien oder gar in einem Buch erscheint. Für das letztere noch ein Beispiel, diesmal etwas komplizierter:

In einer bekannten neueren Mozart-Biographie kommt der Autor auf die Zeit zu sprechen, wo Mozarts Frau Constanze auf längeren Badekuren abwesend war. Er sagt dazu unter anderem:


»Was er in Constanzes Abwesenheit trieb und mit wem, bleibt im Dunkel, denn Zeugnisse und Memoiren gibt es nur auf der Ebene der Respektabilität.«


Nach seiner Denotation, d.h. nach seinem logisch feststellbaren Informationsgehalt, sagt dieser Satz nur, daß wir nicht wissen, was Mozart in Constanzes Abwesenheit tat. Viel wichtiger ist aber die Konnotation, der Beiklang, und damit auch die Insinuation. Was sich dem Leser vor allem einprägt, ist nämlich, daß es Mozart »mit jemandem trieb«, und daß dies »im Dunkel blieb« und »nicht respektabel« war.

Das »Gelenk«, mit dem die Konnotation an der Denotation befestigt ist, ist das Verb »treiben«. Zunächst wird es allein verwendet und hat dann noch den harmlosen Sinn von ›tun‹, also: ›Wir wissen nicht, was er in jener Zeit tat‹. Aber schon im nächsten Halbsatz wird ein »mit« eingefügt, und dadurch ergibt sich die Wendung »es mit jemandem treiben«, die nun einen eindeutig sexuellen Sinn hat. Dieser wird noch verstärkt durch die Zusätze »im Dunkel« und »Respektabilität«. So entsteht beim [179] Leser der unklare Eindruck von allerhand Ausschweifungen, die aber, sei es von Mozart selbst, sei es von jemand anderem, heuchlerisch vertuscht worden seien.

Dieser Eindruck ist geschichtlich falsch. Mozart vertuschte nichts, und vieles spricht dafür, daß er Constanze treu war, zum Beispiel der ungenierte Brief an sie vom 23. Mai 1789, der alles andere als duckmäuserisch ist.

Wir fassen noch einmal zusammen, was die Insinuation bedeutet:


1. Es wird Schaden zugefügt: jemand wird um seinen Ruf gebracht,

2. Der »Täter« drückt sich nicht direkt aus.

3. Er kann deshalb die Verantwortung ablehnen und sagen: So habe ich es nicht gesagt und auch nicht gemeint. Der Leser (Hörer) bleibt im Unklaren, ob Absicht oder Zufall vorliegt.

4. Der Leser (Hörer) hat einiges zu tun: Da die »Information« nicht direkt gegeben wird, muß er ein wenig »Rätsel lösen«, d.h. die indirekte Mitteilung in direkte übersetzen, was ihm unter Umständen zusätzlichen Spaß macht.


Alles in allem ist die Insinuation kein sauberes sprachliches Verhalten. Wer sie bewußt treibt, handelt ähnlich wie ein Lügner, wem sie unterläuft, der ist fahrlässig. Nicht von ungefähr »arbeiten« die großen Schurken der Weltliteratur gern mit ihr: Shakespeares Jago bringt Othello durch Andeutungen in rasende Eifersucht. Durch Andeutungen veranlaßt Domingo im »Don Carlos« (III, 4) den König, die Treue seiner Königin und die Legitimität seiner Tochter anzuzweifeln:


Das Volk denkt an den Monat noch zurücke,

Der Eure Königliche Majestät

Dem Tode nahebrachte – dreißig Wochen

Nach diesem liest es von der glücklichen

Entbindung –


[180] Auf gut deutsch: Zur Zeit, als die Tochter gezeugt wurde, war der König todkrank.

Heute hat sich die Situation insofern verändert, als nicht mehr die Theaterschurken die Insinuation gebrauchen, sondern die Medien.

Aber auch im täglichen Leben kommt sie häufig vor:


»Haben Sie nicht gesehen, wie blaß die Frau A. aussieht? Der Mann hat doch diese schöne Sekretärin.«

»Frau B. nimmt sich die erste Junihälfte Urlaub, Herr C. nimmt sich die erste Junihälfte Urlaub – na ja.«

»Na, wer solche Geschäfte macht wie Herr D., kann sich wirklich einen Wintergarten leisten.«

»Der Sohn soll das Examen mit Glanz bestanden haben. Die hatten doch den Professor immer auf die Jacht eingeladen.«


Alle die geläufigen Skandalthemen: wer mit wem schläft, wer unsaubere Geschäfte macht, wer sich von wem hat bestechen lassen, können Gegenstand von Alltags-Insinuationen sein. Wir sehen jetzt auch klarer, was diese Kommunikationsform so »angenehm« macht: Der Sprecher darf andeuten, ohne daß er zur Verantwortung gezogen wird; der Hörer bekommt nicht das Ganze geliefert, sondern Mosaiksteinchen, die er zusammensetzen darf, und freut sich, daß ihn der Sprecher für so klug hält. Beide, Sprecher und Hörer, haben einen Moment der Intimität und fühlen sich dadurch verbunden und verstanden. Und schließlich – wenn es sich um Skandale handelt, was ja meistens der Fall sein wird – bringt das (gemeinsame) Beurteilen von unmoralischen Menschen und unmoralischen Handlungen noch eine zweifache Lust: erstens die voyeuristische Beschäftigung mit fremden Sünden, zweitens die moralische Satisfaktion, die im (gemeinsamen) Verurteilen von Sünde besteht.

Gerade weil diese Art von Insinuation für beide Teile so »attraktiv« ist, muß man vor ihr warnen. Sie ist »fies«, und sie fällt früher oder später auf den Urheber zurück. Man wird diesem zwar lange Zeit fasziniert zuhören, aber am Schluß doch sagen: »Der N.N. ist ein fürchterliches Waschweib, weiß immer alles und ist immer voller Andeutungen, zu denen er doch nicht stehen [181] will.« Wem es gleichgültig ist, daß dies von ihm gesagt wird, der mag ruhig weiterfahren – wem es nicht gleichgültig ist, der soll sich vor Insinuationen hüten.


ZU BEACHTEN


Zur Lüge gehört Absicht.


Konventionen sind keine Lügen.


Kein Mensch muß sich bieten lassen, ausgefragt zu werden.


Höflichkeit ist nicht Heuchelei, Grobheit ist nicht Ehrlichkeit, Aggression ist nicht Wahrheitsliebe.


Mentalreservation nur dann gebrauchen, wenn kein Schaden entsteht.


Insinuation meiden wie die Pest.

Quelle:
Leisi, Ilse und Ernst: Sprach-Knigge oder Wie und was soll ich reden? Tübingen 21993, S. 177-182.
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