Mentalreservation – die Dreiviertellüge

[176] Wir nehmen folgendes an: Ein Mensch hat im Februar eine böse Grippe gehabt, von der er sich aber schon im März komplett erholt hat. Dieser Mensch erhält im April eine Einladung, die er nicht annehmen will. Nun schreibt (oder telefoniert) er:


»Bitte seien Sie nicht böse, wenn ich Ihrer freundlichen Einladung nicht Folge leiste. Ich hatte dieses Frühjahr eine böse Grippe, die mir schwer zu schaffen machte.«


Diese einfachen Sätze erweisen sich bei genauerer Betrachtung als nicht ganz einfach. Zunächst ist festzustellen, daß beide wahr sind. »Ich leiste Ihrer Einladung nicht Folge« ist wahr, und »Ich hatte dieses Frühjahr eine böse Grippe« ist ebenfalls wahr. Also die reinste Wahrheit? Ja; aber nur, solange man jeden Satz einzeln betrachtet. Denn wir pflegen, wenn wir zwei oder mehr Sätze hören, diese logisch zu verbinden. Darum wird der normale Hörer oder Leser dieser Sätze sie so verstehen: »Ich leiste Ihrer Einladung nicht Folge, weil ich noch unter einer Grippe leide.« Und dies ist nicht mehr wahr.

Wir haben also den paradoxen Fall, daß sich aus zwei Wahrheiten eine Unwahrheit ergibt. Oder noch zugespitzter gesagt: daß der Sprecher (oder Schreiber) den Hörer (oder Leser) mit Wahrheiten belügt, weil er weiß, daß Sätze normalerweise – von jedem Hörer, der nicht extrem mißtrauisch ist – logisch verknüpft und dementsprechend interpretiert werden.

Dies ist nun ein typischer Fall von Mentalreservation, lateinisch reservatio mentalis. Der Sprecher sagt nichts Unwahres, aber er macht »mental« (in seinem Geiste) eine Einschränkung oder Klausel (reservatio), die er dem Hörer nicht mitteilt. Die Mentalreservation hat in der Geschichte in wichtigen Situationen [176] – vor Gericht und in Disputationen – eine große Rolle gespielt; vor allem den Jesuiten hat man den exzessiven Gebrauch dieser »Technik« vorgehalten. In »Macbeth« (2. Akt, 3. Szene) läßt Shakespeare eine der Personen von einem »Zweideutler« (equivocator) sprechen, und die Forschung nimmt an, es handle sich um eine Anspielung auf einen kurz vorher (1606) stattgehabten Prozeß gegen einen Jesuiten, welcher bekannte, »Zweideutelei« (Mentalreservation und ähnliches) getrieben zu haben.

Heute ist die Mentalreservation wohl nicht mehr von historischer Bedeutung, sondern eher etwas Triviales. Wenn man sie einmal beherrscht, ist sie ungeheuer einfach und verführerisch einladend. »Verzeihen Sie, daß ich Ihren Brief erst so spät beantworte. Ich war auf einer Vortragsreise in Österreich.« Ich war es zwar, aber zwei Monate vorher. Damit habe ich den Adressaten geschont, habe ihm auch keine Unwahrheit gesagt. Aber eben: Ganz sauber ist die Sache nicht; ein Schuß von »Zweideutelei« bleibt. Darum: Zurückhaltung beim Gebrauch der Mentalreservation – im Notfall und wenn dem Adressaten kein Schaden entsteht, mag sie hingehen, aber zur Gewohnheit sollte sie nicht werden.

Quelle:
Leisi, Ilse und Ernst: Sprach-Knigge oder Wie und was soll ich reden? Tübingen 21993, S. 176-177.
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