Echte und falsche Ehrlichkeit

[173] Wir haben diese Episode etwas ausgeführt, weil sich in letzter Zeit ein interessanter, aber im Grunde unerwünschter Gebrauchswandel der Wörter »Wahrheit« und »Ehrlichkeit« vollzogen hat. »Wahrheit«, früher ein mehr oder weniger neutraler Begriff, wird immer häufiger nur noch für Unangenehmes gebraucht. »Jetzt will ich ihm die Wahrheit sagen« bedeutet: ›Jetzt will ich ihm etwas Unangenehmes sagen‹. Die Technik eines bekannten Porträtfotografen wurde in einer Zeitschrift dem Sinne nach so beschrieben: »Seine Kamera schraubt sich von unten heran, wählt noch nie gehabte Perspektiven, rückt dem Gesicht in die Nähe, bis die Wahrheit zum Vorschein kommt.«

In Wirklichkeit ist natürlich das Gesicht eines Menschen gleich wahr abgebildet, ob es aus der normalen Sprechdistanz oder ob es makroskopisch aufgenommen ist; ja man könnte sogar argumentieren, daß das Übliche – also die Sprechdistanz – das Wahrere sei. Aber eben: die Mondlandschaft der Poren und Warzen ist weniger schön als die normale Aufnahme; darum wird sie als »die Wahrheit« bezeichnet.

Parallel läuft die Entwicklung von »ehrlich« und »Ehrlichkeit«. Bis vor einigen Jahrzehnten verstand man unter einem ehrlichen Menschen einen, der nicht lügt und nicht stiehlt. In neuerer Zeit – kurz nach dem Zweiten Weltkrieg durch literarische Werke wie etwa Osbornes »Look back in Anger« (›Blick zurück im Zorn‹) oder Kingsley Amis' »Lucky Jim« angebahnt – hat sich ein Bedeutungswandel vollzogen: Als »ehrlich« gilt heute in erster Linie, wer zu sich selbst steht und nichts beschönigt. Ein klassisches Beispiel ist der eben genannte Roman »Lucky Jim« (1954), dessen »ganz große, noch [173] nie dagewesene Ehrlichkeit« von der Kritik immer wieder hervorgehoben wurde. Dabei hat der Held die Eigenschaften eines kleinen Gauners: Er haut seine Mitmenschen über die Ohren, drückt sich von Verantwortungen, telefoniert unter falschem Namen, ist also alles andere als ehrlich im ursprünglichen Sinn – aber eben: Er gibt alles offen zu, zum Beispiel, daß er die Kulturwerte, an welche die anderen Menschen glauben (zum Beispiel Mozart) für Mist (»filthy«) hält – und dies trug dem Roman den Ruf einer nicht zu überbietenden Ehrlichkeit ein.

Der neue Ehrlichkeitsbegriff ist nicht in allen sozialen Schichten gleich vertreten. Man findet ihn am prononciertesten bei militanten Aussteigern. Dort ist er ein Teil des Credo. Sie verbinden mit dem Begriff »Bürgertum« unweigerlich den Begriff der Heuchelei, einer Maske, die es abzureißen gelte. Und unter »Heuchelei« verstehen sie unter anderem das, was wir vorher an Beispielen geschildert haben, nämlich den Ersatz von aggressiven Gesprächswendungen durch harmlosere. Wir erlauben uns, unsere Meinung dem entgegenzusetzen: Es ist das Recht jedes Menschen, in einer Konversation statt des aggressiven Wegs den friedlicheren zu wählen, also statt »die Musik war gräßlich» zu sagen: »der Sauerstoffmangel war schlimm«. Wir ermuntern damit niemand zum Lügen, denn dies ist keine Lüge.

Übrigens sind wir der vollen Überzeugung, daß diejenigen Menschen, die in solchen Fällen die unhöflichere Version wählen, dies nicht aus Wahrheitsliebe tun, sondern aus schlichter Aggression.

Sprachliche Aggression kommt – obwohl sie von manchen politischen Richtungen systematischer gepflegt wird als von anderen – in allen sozialen Schichten und in allen politischen Bereichen vor. Dafür ein Beispiel, das wir die »Trüffel-Geschichte« nennen. Eine Dame aus »feinsten Kreisen« kam zu uns zum Tee und brachte als Geschenk eine große Schachtel Schokoladetrüffeln mit. Wir bedankten uns hocherfreut. Dann aber fragte die Dame: »Welche mögen Sie lieber, die hellen [174] oder die dunklen?« Wir waren im Zweifel: »Ach das können wir gar nicht so sagen; wir mögen beide gern.« Die Dame: »Aber man muß doch eine Meinung haben.« Wir: »Nun, wenn es sein muß: die hellen.« Die Dame streng: »Kenner sagen, sie mögen die dunklen lieber.«

Da hatten wir es. Zwar kriegten wir ein schönes Geschenk, aber die Freude wurde uns in zwei Etappen verdorben. Erstens sagte man uns, wir seien Menschen ohne Meinung – was nicht erfreulich ist – und darauf, wir gehörten nicht zu den Kennern. Dies alles in wenigen Sekunden.

Was ist das jetzt? Gewiß werden manche sagen: Wahrheitsliebe. Aber viel wahrscheinlicher ist doch, daß es sich hier um schlichte Aggression handelt, die den von ihr besessenen Menschen fast zersprengt. Er überwindet sich und kauft seinen Gastgebern eine große Schachtel Trüffeln, aber dann, beim Reden, geht ihm aus irgendwelchen Gründen die Aggression durch, und er muß das Geschenk wieder zunichte machen, indem er die Beschenkten mit Worten angreift.

Eine gewisse Neigung besteht bei fast allen Menschen, Unhöflichkeit mit Ehrlichkeit zu identifizieren. Nicht von ungefähr wird der berühmte Ausspruch des Baccalaureus im »Faust II« so gerne zitiert. Auf seine Grobheit aufmerksam gemacht:


»Du weißt wohl nicht, mein Freund, wie grob du bist«


antwortet er ganz gelassen:


»Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist.«


Ein noch konkreteres Beispiel bringt in einem Essay über die Höflichkeit der einstige Bremer Bürgermeister und Übersetzer Otto Gildemeister: Als um die Jahrhundertwende ein prominenter Bürger einer deutschen Stadt der Unterschlagung überführt worden war, da verwunderten sich diejenigen, die ihn persönlich kannten, aufs höchste und sagten: »Wer hätte das gedacht? Ein so grober Mann!«

[175] Darum noch einmal: Aggression ist noch nicht Ehrlichkeit, und Höflichkeit ist noch nicht Lüge. Erst im folgenden Abschnitt kommen wir der Lüge langsam näher.

Quelle:
Leisi, Ilse und Ernst: Sprach-Knigge oder Wie und was soll ich reden? Tübingen 21993, S. 173-176.
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