Was ist Lüge?

[169] Auf den ersten Blick scheint alles ganz einfach: Man soll die Wahrheit sagen und die Lüge unterlassen. Aber schon Pilatus hat (nach Johannes 18.38) gefragt: »Was ist Wahrheit?«, und die Lüge zu definieren ist auch nicht ganz einfach. Wenn ich zum Beispiel sage: »Letzten September waren wir in Wetzlar; das hat uns sehr gefallen«, und wir aber im Oktober in Wetzlar waren – ist das nun gelogen? Die meisten würden sagen: Nein. Gelogen ist es erst dann, wenn damit eine Täuschungsabsicht verbunden ist, ein dolus, wie es das Recht nennt. Wenn ich dadurch, daß ich »September« sage, dem Gesprächspartner direkt oder indirekt einen Schaden zufüge, oder mir einen ungerechten Vorteil verschaffe, dann handelt es sich um eine Lüge, sonst nicht.

Eine Lüge wird also offenbar nicht einfach durch das Verhältnis der Aussage zu den Tatsachen bestimmt, sondern zu einem guten Teil durch die Absicht oder die Folgen eines Sprechakts. Hieraus ergibt sich, daß man im Gebrauch des Wortes »Lüge« sehr vorsichtig sein soll; mit Recht kann jemand beleidigt sein, dem man Lüge vorhält, wenn die Absicht des Lügens fehlt. In England zitiert man gern und schmunzelnd Churchill, der im Parlament einmal von »terminological inexactitude« (›terminologischer Ungenauigkeit‹) gesprochen habe, wo ein anderer seinen Gegner der Lüge bezichtigt hätte.

Es gibt sehr viele Menschen, die es lieben, das, was sie erzählen, etwas auszuschmücken, sei es, um die Sache dramatischer zu machen, sei es, um den Gesprächspartner zu erfreuen, aber keineswegs in böser Absicht. Dies ist bei südlichen oder östlichen Völkern noch ausgeprägter als bei uns. Das klassische Erzählwerk über die englisch-indischen Beziehungen, aber auch über die Probleme der Wahrheitsfindung, der Roman »A Passage to India« von E.M. Forster (1924), enthält eine Fülle von Aussagen, die jenseits der Wahrheit liegen und doch keine Lügen [169] sind. Der junge indische Arzt Aziz wird (im Kapitel 16) von einer Engländerin gefragt, ob er verheiratet sei. Seine Frau ist vor ein paar Jahren gestorben, aber er antwortet:


»Yes, indeed, do come and see my wife« – for he felt it more artistic to have his wife alive for a moment.

(»Ja, gewiß. Sie müssen meine Frau unbedingt einmal besuchen«, denn er fand es geschmackvoller, daß sie in diesem Moment am Leben sei.)


Oder an einer anderen Stelle (Kapitel 2):


He raised his voice suddenly, and shouted for dinner. Servants shouted back that it was ready. They meant that they wished that it was ready, and were so understood, for nobody moved.

(Er [der indische Gastgeber] erhob seine Stimme und fragte, wie es mit dem Essen stehe. Die Diener riefen zurück, es sei fertig – damit meinten sie, sie hofften, es werde bald fertig sein, und so wurden sie auch verstanden, denn keiner [der indischen Gäste] rührte sich.


»So wurden sie auch verstanden«. Darauf kommt es an. Die Gäste hatten offenbar ein Gefühl für das entwickelt, was unter der sprachlichen Oberfläche verborgen liegt. Wer das nicht tut, wer am Wortlaut kleben bleibt, der enthüllt sich als Außenseiter. So ergeht es Panna Lal, wiederum in Indien und in dem selben Roman (Kapitel 6). Aziz (ein Moslem) hat Hemmungen gehabt, an einer für ihn problematischen Garden Party teilzunehmen. Sein Kollege Panna Lal (ein Hindu) hat lange vergeblich auf ihn gewartet und fragt ihn nachher, warum in aller Welt er nicht, wie abgemacht, gekommen sei. Darauf Aziz:


»I am so awfully sorry – I was compelled to go to the Post Office.«

(»Es tut mir furchtbar leid; ich mußte zum Postamt gehen.«)


Und der Autor fährt dann weiter: »Jedermann aus Aziz' Kreisen hätte sogleich verstanden, daß Aziz sich eben anders besonnen habe; aber Dr. Lal, der aus einfachen Verhältnissen stammte«, fragte bohrend weiter: »Aber Sie haben doch mehrere Diener. Konnten Sie denn nicht einen von denen schicken?« und zwang so Aziz, noch direkter zu lügen als vorher, was beide ärgerlich machte.

[170] In unserer westlichen Welt geht es ein bißchen anders zu – aber sicher nur ein bißchen. Auch bei uns gibt es Konventionen, die sich sogleich als solche enthüllen und deshalb keine Unwahrheiten sind, und es gibt mühsame Leute, wie Dr. Lal, welche die Konventionen nicht durchschauen, oder nicht durchschauen wollen, und so den Partner zwingen, aus einer halben Lüge eine ganze zu machen.

Eine solche gängige Konvention ist zum Beispiel der Gebrauch des Wortes »verhindert«. »Ich bin leider verhindert, daran teilzunehmen«, sagt man, wenn man keine Lust hat. Ein bekannter Professor, als man ihn fragte, ob er auch noch in den zweiten Vortrag seines (unsympathischen) Kollegen kommen wolle, sagte freundlich: »Ich werde verhindert sein«, zu gut Deutsch: ›Ich werde es einrichten, daß ich zur gegebenen Zeit nicht kommen kann.‹ Und so wurde er auch verstanden.

»Verhindert sein« ist eine Konvention; aber es ist gleichzeitig mehr. Es sagt nämlich dem Gesprächspartner genau so viel, wie er beanspruchen darf. Im Grunde genommen hat kein Mensch das Recht, von mir genau darüber orientiert zu werden, aus welchen Gründen ich nicht in einen Vortrag, zu einer Einladung oder sonst wohin komme, oder noch allgemeiner: welches meine tiefsten und persönlichsten Gründe dafür sind, etwas zu tun oder nicht zu tun.

Gerade heute, wo die Begriffe der Privatsphäre und des Persönlichkeitsschutzes immer wichtiger und notwendiger werden, muß das betont werden. Die Technik des indiskreten, bohrenden Interviews – die erste Klage darüber findet sich laut »Oxford Dictionary« (unter »Interview«) schon 1870 – wird heute von allen Medien praktiziert. Es ist dabei üblich, dem Gesprächspartner mit Fragen solange zuzusetzen, bis er fast die Fassung verliert. Für das Publikum geht es praktisch nicht mehr um die Wahrheitsfindung, sondern um den Spaß am Kampf – wie einstmals bei den Gladiatorenkämpfen. Der Zuschauer sieht das ganze als Sport, und er will wissen, wer es länger aushält.

Von den Medien hat sich diese Sitte auch auf das Privatleben [171] übertragen. Häufiger als früher gibt man sich nicht zufrieden, wenn jemand etwas Unbefriedigendes sagt, sondern bohrt seinen Gründen nach. Wir halten deshalb ausdrücklich fest: Zum Persönlichkeitsschutz gehört das Recht des Angesprochenen, die Aussage zu verweigern. Das gilt für das öffentliche Interview gleichermaßen wie für das private Gespräch. Man kann das auf grobe wie auf höfliche Weise tun. Wir haben beiden ausprobiert.

Als der eine Verfasser einmal bei einem Fernseh-Interview eine Frage vorgesetzt bekam, die ihm besonders unfair erschien, da stand er bei laufender Kamera auf und machte sich daran, aus dem Aufnahmeraum wegzugehen – worauf er dann freundlich zurückgeholt und freundlich »fertig interviewt« wurde. Dieses grobe Vorgehen hat sich also bewährt und ist zu empfehlen.

Andererseits gibt es die höfliche Verweigerung. Sie kann zum Beispiel darin bestehen, daß man von mehreren Gründen den am wenigsten aggressiven gibt. Eine Bekannte, Lehrerin an einem Gymnasium, litt (als ausgesprochen musikalischer Mensch) bei einer Schüleraufführung beträchtlich unter der mißglückten Orchesterdarbietung; zudem war die Luft im Raum so dick, daß sie es kaum noch aushielt. Sie entfloh also in den Korridor – und traf dort prompt auf einen Kollegen, der sie eifrig befragte, warum sie den Saal verlassen habe. Darauf sagte sie: »Sauerstoffmangel!«

Wir meinen, sie habe vollkommen richtig gehandelt. Einer ihrer Gründe war sicher der Sauerstoffmangel. Der andere war, daß das Schülerorchester elend spielte. Indem sie den ersten Grund nannte, machte sie es möglich, einer längeren Konversation zu entgehen und ihren müden Kopf zu schonen. Hätte sie den andern Grund angegeben, also etwa gesagt: »Das Orchester hat so schlecht gespielt, daß ich es nicht mehr aushielt«, so hätte das zu Konsequenzen geführt, die sie vermeiden wollte: Der Kollege, der das Orchester schätzte, wäre gekränkt gewesen; er hätte ihr Urteil bestritten und sie in eine längere Kontroverse verwickelt, vielleicht hätte er ihre Worte sogar an die [172] falschen Leute weitergeklatscht. Es war das volle Recht dieser Frau, der Konversation diejenige Wendung zu geben, die sie für die weniger zeitraubende und weniger unangenehme hielt.

Quelle:
Leisi, Ilse und Ernst: Sprach-Knigge oder Wie und was soll ich reden? Tübingen 21993, S. 169-173.
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