Vorrede zur zweiten Auflage.

[11] Mit einer Beklommenheit, welche strenge Kritiker zu schätzen wissen werden, sandte ich dieses Buch in die Welt. Denn ich halte es für äußerst schwer, aus dem Resultat seiner Erfahrungen in der Allgemeinheit eine Theorie geben zu wollen, und ich glaube, daß ein sehr scharfer, unbemerkter Beobachtungsgeist, und sehr vielseitige Bemerkungen und Lebensverhältnisse und Lebensverwirrungen dazu gehören, um das Resultat der reinen, nutzbaren Wahrheit herausziehn zu können. – Besonders befürchte ich, daß manchem Leser mein Styl zu gedrängt, die Gedankenfolge zu rasch an einander sich schließend[12] erscheinen würde; und doch wünschte ich, so deutlich als möglich die Masse von Gedanken und Ideen, welche mir vorlagen, in deutlicher Darstellung dem Publikum zu übergeben.

Bei jener ängstlichen Besorgniß habe ich mich getäuscht gehabt, denn das Publikum hat mich besser verstanden, als ich in der Allgemeinheit ahnden konnte. – Die erste Auflage dieses Werkes ist vergriffen, und mit großer Freude liefere ich hier die zweite, nicht aus schriftstellerischem Eigendünkel, sondern wahrhaftig der guten Sache wegen. Man betrachtet nemlich in der That seine Arbeit, seine Meditation ganz an ders, wenn man sie gedruckt vor sich liegen sieht, als – wenn man das mühsam zusammengestellte Manuscript noch einmal überflog. – So ist es auch mir gegangen. Ich habe Bemerkungen, welche der Beachtung vielleicht nicht unwürdig sind, der zweiten Auflage hinzuzufügen, Veranlassung gefunden. Jedes Jahr hat gewissermaßen seine Aera, und giebt zu neuen Beobachtungen und Bemerkungen Veranlassung; die neue Auflage dieses Werkleins muß also auch die Früchte meiner neuen Beobachtungen mit sich bringen.[13]

In einem Werk über den Umgang empfahl ich sehr natürlich die Gesittetheit, und es würde gegen meine aufgestellte und eigne Prinzipen sein, wenn ich leidenschaftlich gegen Rezensenten mich ausließe, sobald sie oberflächlich, sarkastisch, (um mit dem bescheidensten Wort es zu belegen) mein Buch beurtheilen. – Ich habe die größte Achtung vor diesen Ephoren der Literatur. Sie sind gewissermaßen ein Areopagus. Allein einer der Herren, (Hallische Literaturzeitung, Novemberstück 1816. Nro. 273) hat denn doch wohl eine nicht critische – denn das würde belehren! – sondern spitzige Rezension davon entnommen, daß ich in der Vorrede zur ersten Ausgabe mich darüber ausließ, Kathederphilosophen könnten über solche Gegenstände der practischen Philosophie nicht mit ergreifender Klarheit schreiben. Ich glaube immer noch, darin Recht zu haben; denn die Speculation und das Resultat practischer Erfahrungen sind sehr verschiedene Dinge; von letztern aber ist hier die Rede. Die Speculation als solche, hat durch jene Bemerkung im mindesten nicht zurückgesetzt werden sollen; vielmehr gebührt dem theoretischen Philosophen der Vorrang, allein ich denke: suum cuique![14]

Ueber den Titel hat man Bemerkungen gemacht, besonders aber das gebrauchte Wort »Selbstkunde« unpassend gefunden. Ich weiß nicht, wie man das Wort nicht an seiner Stelle lassen wolle. Mögte es auch ein neu erfundenes Wort sein, so ist »Selbstkunde« doch die Kunde, die Kenntniß von mir selbst, und das ist es ja eben, was in diesem Buche hauptsächlich gelehrt werden soll. Man kann, glaube ich, nicht genug über diese Kunde von sich selbst lehren!

Einige Zusätze sind aus der neuern und neuesten Zeit entnommen, weil die Welt stets wechselt, und der Mensch diesem Wechsel sich anzueignen genöthigt ist. Man wird, glaube ich, diese Zusätze nicht übel aufnehmen. Mehrere Materien, welche besonders dem zweiten Theil hinzugefügt worden, greifen, wie ich glaube, in das neue, frische, deutsche Lebensverhältniß ein. – Ohne Wortprunk, aber mit genauer Sorgsamkeit habe ich allen Fleiß angewendet, diese zweite Auflage der Vollständigkeit, welche ich dem Werke wünsche, näher zu bringen. Ich glaube und wünsche daher, daß das Publikum mit der zweiten, sehr verbesserten Auflage dieses Werkes, welches schon zuerst so gütig aufgenommen worden,[15] zufrieden sein wird. Ich sage dies ohne alle Anmaßung, ohne dennoch um die Gunst der Ephoren buhlen zu wollen; denn ein gutes Werk, glaube ich, lobt sich von selbst, und der practisch-philosophischen Beobachtungen kann es nicht genug geben.


Halberstadt im October 1817.


Carl Nicolai.

Quelle:
Nicolai, Carl: Über Selbstkunde, Menschenkenntniß und den Umgang mit den Menschen. Quedlinburg, Leipzig 21818, S. 1.
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