2. Zu meiner Wirksamkeit als Lehrer der Theologie in Basel 1870–1897

[100] A. Barth schreibt in der Sonntagsbeilage der Allgem. Schweizer Ztg. 1897, No. 50, S. 198 über Treitschke, man habe als Zuhörer seiner academischen Vorträge »zu ihm stets das unbedingte Vertrauen gehabt, daß er nicht seine Hauptweisheit für noch zu publicirende Bücher hinter dem Berge halte und den Studenten nur die Abfälle zukommen lasse«. Vielleicht nur der Umstand, daß in derselben Nummer der angeführten Beilage mein Name noch einmal von einem alten Zuhörer, Pfr. Bruckner, mit einer Verdächtigung meiner Aufrichtigkeit verbunden vorkommt, bringt mich auf den Gedanken, es könnte etwa mit diesem mit T. contrastirten Docenten ein Eindruck aus meinem Auditorium wiedergegeben sein. Hiergegen verwahre ich mich auf diesem stillen Blatte, die Möglichkeit vollkommen und ohne Groll gegen den Mißverstehenden anerkennend, daß ich so gröblich mißverstanden sein könnte. Ich habe allerdings meinen theologischen Zuhörern manches vorzuenthalten mich für verpflichtet gehalten, was ich bei sonstiger, außeramtlicher Behandlung der Sache vielleicht ausgesprochen hätte. Wo ist das aber je zu Gunsten noch zu schreibender Bücher geschehen? Denn wo sind diese Bücher noch heute? Wohl habe ich über viele Dinge auf dem Katheder redend mir vorbehalten, es würden wohl einmal Zeit und Ort für mich kommen, wo ich über diese Dinge anders und freier reden würde, doch lag mir dabei nichts ferner als Absicht und Gedanke, mit dem was ich meinen Zuhörern entzöge künftige Bücher auszuzieren. Auch behielt ich das Vorenthaltene zu einem weit geringeren Theil mir selbst als Anderen, nämlich der Zukunft überhaupt vor. Denn auch was ich ihnen gab sind nimmermehr »Abfälle« gewesen, die ich neben einer »Hauptweisheit«, mit der ich »hinter dem Berge gehalten« als gut genug für die Gelegenheit gehalten[101] hätte. Was ich vom Katheder gelehrt habe, ist stets ein Stoff gewesen, für den ich unter Umständen eine andere Form gewählt hätte, der aber in der ihm gegebenen Form vollständig und abgeschlossen war, und mit dem ich mich persönlich bei keiner Zeile in anderem Widerspruch befand als dem unvermeidlichen, den ich aus der Unzufriedenheit mit meiner Leistung innerhalb der mir gesteckten Aufgabe empfand. Ich habe also z.B., wenn ich über die Geschichte des neutestamentlichen Kanons las, meinen Zuhörern überlassen, zuzusehen, was sie mit dem, was sie von mir lernten, als Theologen anfangen mochten und konnten, bin auch nie darauf ausgegangen, ihnen ihre Sache dabei sonderlich schwer zu machen, freilich auch nicht darauf, sie ihnen zu erleichtern – da mischte ich mich sozusagen nicht hinein – aber was ich lehrte war, soweit die für das Colleg bemessene Zeit es zuließ, was ich über die Sache wußte und nichts Anderes, und dieses so gut ich es eben deutlich machen konnte, bei meiner in historischen Dingen überhaupt sehr skeptischen und vorsichtigen Art. Von »Abfällen« war auf keinen Fall im Entferntesten die Rede, es sei denn in dem Sinne, daß ich fähigen Zuhörern mancherlei Anregung bot, aus dem, was ich unvollendet ließ, ein befriedigenderes Ganzes zu machen, auch noch abgesehen von aller theologischen Nutzanwendung. Das war freilich eine von Treitschkescher toto coelo verschiedene Auffassung der Aufgabe eines academischen Lehrers – wie ich es als sein langjähriger vertrauter Freund so leicht zu verkennen überhaupt nicht in der Lage bin – nur wäre der Unterschied ganz wo anders zu suchen als wo unter der hier angenommenen Voraussetzung Hr. Barth ihn suchen würde. Es käme mir auch dabei durchaus nicht darauf an, besser zu bestehen, ich meine nur, daß mit dem moralischen Fallbeil hier überhaupt nicht so einfach auszukommen ist.[102]

Mit den Jahren wurde meine Lage als Lehrer der Theologie immer schwieriger.

Ich sah mich in den letzten Jahren meiner Wirksamkeit als solcher immer mehr von einer theologischen Jugend umgeben, welche weil sie (object. casus) die Welt hat, der Meinung ist, sie werde demnächst die Welt haben und in diesem Glauben muthig auf ihre Eroberung auszieht, nachdem sie ihr die Etikette der »christlichen Welt« aufgeheftet und zunächst damit ihre Ansprüche angemeldet hat. Ich habe mich hier nicht im Allgemeinen über die Rechte und Aussichten dieser Unternehmung auszusprechen, was könnte ich bei dem Widerstand, den sie vermuthlich zu überwinden haben wird, erhebliches entgegenstellen? Nur das Beunruhigende, das sie für mich selbst hatte, möchte ich deutlich machen. Mir, der eine Theologie höchstens in dem Sinne noch gelten lassen wollte, daß sie bei dem Auseinanderkommen der Welt und des Christenthums, etwa als Vermittlerin zu guten Diensten berufen sei dazu, daß es dabei zu einer für das Christenthum leidlichen Auseinandersetzung komme, und mit dieser Auffassung der alten Disciplin mein Verhältniß zu ihr wahrlich schon hinreichend verwickelt hatte, blieb nun nichts anderes übrig, als Beziehungen vollkommen abzubrechen, welche mich nun vollends in einen unabsehbaren Schlund von Verwirrung hineinzuziehen drohten. Was sollte ich, der sich nur noch mit einer in ihren Ansprüchen auf ihren Beruf in Sachen der Religion so tief herabgesetzten Theologie befassen mochte, bei diesem ihrem neuen Morgenroth, in welchem sie die Schicksale der Philosophie und Metaphysik, der Kunst, der Politik, ja des »socialen Problems« muthig in ihre Hand nahm, anders anfangen, als nicht mehr mitmachen und mich unzweideutig dazu bekennen, daß dieser Aufschwung statt meine Zuversicht zur Theologie zu beflügeln, auch noch das Fünkchen davon, das in mir glomm, zum Verlöschen bringe. Bei der Vollkommenheit meiner Unschuld als Prophet dieses neuesten[103] Triumphzugs der Theologie durfte ich mich auch nicht unter den allerletzten seiner Thyrsosträger blicken lassen.


Die Vorstellung von Wissenschaft unter der ich in Beziehung zu ihr getreten bin, ist, daß sie dazu bestimmt ist, an den Dingen eine Art jüngsten Gerichts zu üben, und nur so bin ich überhaupt zu meinem Begriff von Theologie gekommen. So wenig wir irgend ein Ding außer seiner selbst noch eines anderen zu seiner Vertretung bedarf, etwa der Wissenschaft, so wenig auch Religion und Christenthum einer Theologie. Nun ist freilich nicht minder richtig, daß die Dinge auch nur durch sich selbst vernichtet werden, d.h. sterben können, und insofern freilich beides, sie zu vertreten wie zu vernichten, gleich überflüssig ist. Darum ist aber doch nicht Beides gleich gleichgültig. Denn sterben müssen die Dinge, das brauchen wir nicht zu begreifen und müssen uns doch durch den Augenschein davon überzeugen lassen. Aber daß die Dinge leben müssen, das ist uns ein völlig undurchdringliches Räthsel, dem wir schon darum nicht wie jenem anderen gegenüber stehen, als wir vermögen, Dinge sterben zu lassen, aber nicht auch leben. Wohl ist uns Menschen gewissermaßen der Tod in die Hand gegeben, aber nicht das Leben. Es ist das wenigstens zweifellos in Hinsicht auf die Dinge der Natur, aber in der Welt des Geistes gewiß nicht minder zweifellos, wenn es gleich hier auf den ersten Blick ganz anders scheint. Denn von der Religion z.B. ist sogar behauptet worden, daß sie ihr Leben überhaupt nur dem Menschen und seinen Begehrungen, seiner Willkür verdanke. Wohl, aber im selben Moment, wo dies erkannt wurde, wurde überhaupt der Streit um Tod und Leben der Religion gegenstandslos; denn sie konnte fortan nur für todtgeboren gelten. Denn hat der Mensch schon den Tod von Dingen in der Hand, denen er das Leben nicht gegeben und zu geben gar nicht im Stande ist, so vollends den von Dingen, die schon das Leben von ihm haben. Und eben darum[104] bleibt es viel strenger wahr, wenn der Wissenschaft die Fähigkeit zugesprochen wird, Religion zu vernichten, als daß sie sie vertreten können soll. Gerade das vermag der Mensch nicht, denn sobald er diese Aufgabe ernstlich auf sich nimmt, hat sie auch zu existiren aufgehört.

Also ich weiß als Theologe von einer anderen Fähigkeit und Bestimmung der Theologie in Hinsicht auf das Christenthum, als an ihm ein jüngstes Gericht zu vollziehen, nicht. Allein ich weiß nicht nur von den Dingen sondern auch von mir selbst, und daß alle Macht der Wissenschaft nicht nur an der Vorstellung, die das menschliche Individuum davon hat, hängt, sondern natürlich auch an der Beschaffenheit dieses Individuums, und demnach auch wer etwas Ernstes mit einer Vorstellung von der Wissenschaft, wie ich sie eben als die meine bezeichnete, anfangen will, jedenfalls ein außerordentlicher Mensch sein und sich auch zu Außerordentlichem berufen fühlen muß. Ein solcher Mensch bin ich nun zweifellos nicht.


9. Jan. 98.


Ich habe als Prof. der Theologie meinen gründlichen Unglauben auf dem Katheder und in allen meinen Beziehungen zu den mir anvertrauten Schülern für mich behalten. Zwei Bedenken, von denen Andere vielleicht annehmen möchten, sie machten mir nun im Gewissen vornehmlich zu schaffen, lassen mich vielmehr vollkommen in Ruhe. Weder habe ich mich bei solcher Führung meines theologischen Lehramts sonderlicher Falschheit anzuklagen, noch mißgünstiger und pflichtwidriger Vorenthaltung eines meinen Zuhörern gebührenden Besitzes. Was die Falschheit betrifft, so ist mein Unglaube meinen Zuhörern freilich verborgen geblieben, doch von mir darum noch nicht hinter irgend welchem meinerseits herausgesteckten Glauben versteckt worden. Auch weiß ich im Grunde nicht, bis wie weit mein Unglaube sich meinen Zuhörern entzogen, gewiß weiß ich,[105] daß nur die stumpfsten darunter mich für einen Gläubigen gehalten haben könnten. So weit ich demgemäß manchen von ihnen ein unerquickliches Räthsel geblieben sein mag, bin ich so weit entfernt wie nur möglich irgend einem von ihnen einen Vorwurf daraus zu machen, daß ich ihnen etwa unverständlich geblieben bin1; nur erkenne ich auch ihnen kein Recht der Anklage gegen mich zu, das im Geringsten sich auf eine bei mir vorauszusetzende Absicht sie zu täuschen stützen könnte. Wenn ich ihnen nicht der Lehrer gewesen bin, den sie an meiner Stelle wünschen mußten, so hat dies überhaupt mit meinen persönlichen Absichten gegen sie rein gar nichts zu thun und hat sich in unserem Verhältniß durchaus nur aus dem allgemeinen Zustande der Theologie in der Gegenwart ergeben, als deren Reformator direct zu verfahren ich gar keinen Beruf hatte. Mich etwa als solchen zu gebärden, hätte vielmehr mit viel größerem Rechte mir den Vorwurf zuziehen mögen, eine Maske vorzunehmen. Und nun der andere Punkt mißgünstiger Vorenthaltung fremden in meinen Besitz gekommenen Eigenthums zum Nachtheil der eigentlichen Besitzberechtigten. Dieser Vorwurf wäre aber einfach absurd, denn etwas der Art (Mißgunst) ist in meinen Beziehungen zu meinen Zuhörern einfach thatsächlich niemals in Betracht gekommen. Ich habe freilich meinen Zuhörern in Hinsicht auf mein Wissen und Glauben niemals einen Anspruch zuerkennen können, den ich überhaupt keinem anderen Menschen zuerkenne, und zuzuerkennen mich auch gar nicht gebunden fühle. Daß einmal mein Wissen und Glauben, zunächst eben dieses, mein Eigenthum sind, dafür kann ich nichts; denn ich habe die Welt nicht gemacht. Auch dafür, daß ich, bevor ich daran denken kann, dieses mein Wissen und Glauben zum Eigenthum auch Anderer zu machen, zunächst dafür zu sorgen[106] habe, daß es wirklich und in möglichst vollkommenem Sinne mein Eigenthum werde, mit einem Worte bevor ich Andere zu belehren und zu erziehen unternehme, mich selbst zu belehren und zu erziehen habe, auch das ist keine Überzeugung, die ich mit allen ihren Consequenzen – auch der des für mich Behaltens noch unvollkommenen Wissens und in meinem Fall selbst gar nicht vorhandenen Glaubens – als sündlich empfinden kann. So habe ich denn, mich als Lehrer meinen Zuhörern gewissermaßen entziehend, thatsächlich an mich sehr viel gedacht und an meine Zuhörer wenig, aber an mich am allerwenigsten im Gefühl eines reichen, anderen nicht gegönnten Besitzes, sondern eher in einem entgegengesetzten. Auch habe ich sodann thatsächlich auf dem Katheder an meine Zuhörer gar nicht so wenig gedacht, wie es bei abstracter Betrachtung der Grundsätze meines Verhaltens ihnen gegenüber erscheinen mag, zunächst ihnen und einem Dritten erscheinen mag, und am allerwenigsten hat mir Mißgunst diese Gedanken eingegeben. Nur daß diese meine Gedanken an sie nicht sowohl aus so abstracten auf das allgemeine Verhältniß von Lehrer und Schüler beruhenden Reflexionen hervorgegangen sind, als aus den nächsten Umständen, in die wir mit einander hineingestellt waren. Zum Beispiel aus der Zusammensetzung der Facultät, zu der ich gehörte. Ist überhaupt das Grundmotiv meiner Verwaltung des mir anvertrauten Lehramts gewesen, daß ich mich, so wie ich die Stellung der ganzen Zeit zum Christenthum beurtheilte, für verpflichtet hielt, nicht meinerseits die Conflicte, denen ich meine Zöglinge entgegengehen sah, für sie unlösbar zu machen – was sie meiner Ansicht nach allerdings waren –, so verstärkte sich für mich dieses Motiv durch die Thatsache der Gegensätzlichkeit der an meiner Facultät vertretenen Standpunkte. Sollten unsere jungen Zöglinge das Schlachtfeld dieser Standpunkte werden? Das stürzte nicht nur sie in die heilloseste Verwirrung und untergrub für sie nicht nur die[107] Grundlage der Autorität der von ihnen besuchten Lehranstalt, sondern bedrohte diese Anstalt selbst mit Auflösung. In der That habe ich denn oft genug selbst in der gemäßigten Atmosphäre, welche überhaupt in unserer Facultät herrschte, und die ich keineswegs für meine Wirksamkeit darin in Anspruch nehme, mit aufrichtigem Antheil der Noth gedacht, in die unsere Zuhörer ohnedies sich versetzt finden mußten. Auch im Übrigen gedachte ich ihrer bei meinen academischen Vorträgen, von der nackten Überlieferung des exegetischen und kirchenhistorischen Stoffes abgesehen, mit keiner anderen Absicht als mit der, sie zu schonen und ihnen ihre künftige Laufbahn nicht noch schwerer zu machen, als sie es meiner Annahme nach ohnehin sein mußte und als für mich unvermeidlich war, weil ich darin wirklich zu helfen mich nicht berufen fühlte. Dabei fügte ich mich so zu sagen ohne Widerstand in das Bewußtsein, daß ich im Wettstreit der Mitglieder der Facultät in der Beeinflussung unserer Zöglinge den Löwenantheil dabei meinen Collegen überließ, nicht aus Mißgunst oder gar aus Geringschätzung unserer Zöglinge, etwa weil ich überhaupt kein »Seelenfänger« bin und eben auch hier kein Theologe, sondern weil ich in meiner Stellung als Lehrer viel interessierter vom Problem des Christenthums und der Aufgabe, es für mich zu ergründen als von jeder andern war. Dabei nur in sehr beschränkter Weise den Anforderungen meines Amts zu genügen, war ich mir stets bewußt, niemals, daß ich dadurch vollkommen außer Stande gesetzt wurde, diesen Anforderungen zu entsprechen. Kurz daß irgend etwas wie Mißgunst im Spiele gewesen wäre bei meinen Reticenzen auf dem Katheder, könnte nur behaupten, wer vom wahren Sachverhalt dabei so wenig Ahnung hätte, wie es allerdings die Leute gewöhnlich haben, wenn sie von den innersten Angelegenheiten Anderer reden. Auch dagegen hätte ich mich nicht zu vertheidigen, bei meinem Verfahren mehr auf meinen Nutzen bedacht gewesen zu sein als auf den meiner[108] Zuhörer. Denn wenn es mir auch um meine Förderung mehr zu thun war als um die ihre, so ist mir der ihnen dadurch erwachsene Schade und entgangene Vortheil noch nicht so klar noch gewiß als wie der Schade, der mich getroffen hat und der Vortheil, der mir entgangen ist.

In Wahrheit liegen die Anlässe zu einer Art von Reue wenigstens, die ich beim Rückblick auf meine Laufbahn als Lehrer empfinde nach ganz anderer Richtung. Sie sind mir aus einer Art von Unterschätzung der von mir selbst von meiner Auffassung dieser Laufbahn, als ich mir die Grundsätze, die ich darauf zu befolgen hätte, vorschrieb, zu erwartenden Folgen erwachsen. Daß ich mich mit diesen Grundsätzen selbst lähmte, mußte mir im Allgemeinen klar sein, doch habe ich das Maaß dieser Lähmung von vornherein nicht vollständig übersehen und mich daher auch nur soweit ihm von vornherein willig unterworfen, als diese Lähmung meine academische Wirksamkeit im engsten Sinne oder meine Wirksamkeit auf dem Katheder betraf. Dagegen irrte ich in Hinsicht auf die Freiheit, die mir die eigenthümliche, so zu sagen halbherzige Auffassung meines Lehramts im Bereich meiner sonstigen öffentlichen Wirksamkeit, d.h. als Schriftsteller lassen würde. In dieser Hinsicht habe ich mir Illusionen gemacht und nicht sofort den Unterschied erkannt, der zwischen dem Lehrer eines geschlossenen Kreises von Zöglingen besteht und dem in die Welt hinausredenden Schriftsteller. Der Lehrer sucht nicht, er hat es aber mit Suchenden zu thun, denen er zum Finden zu verhelfen berufen ist. Er hat es in der Hand, wie viel er zu diesem Zweck von sich an seine Zöglinge mittheilen will, ja gewissermaßen ist er verpflichtet sich dabei fest im Zügel zu halten und nicht alles zu sagen, was er zu sagen hat. Ganz anders der Schriftsteller. Er weiß nicht, zu wem er redet, er sucht erst seine Zuhörer. Welche Aussicht hat er, sie zu finden, wenn er sich nicht vor Allem selbst ganz zu erkennen giebt? Der Zweck des Lehrers setzt unter Umständen[109] die beschränkte Erkennbarkeit seiner Person für seine Zuhörer voraus, der des Schriftstellers in Beziehung auf die seine das gerade Gegentheil, der Lehrer kann schweigen, der Schriftsteller nicht. Mag dieser was er an den Mann bringen will, sich selbst noch so sehr abringen, sei es daß er dabei die Schranken seiner Talente oder selbst die seines Willens zu überwinden hat, was er anbringen will, muß an den Tag, irgendwo muß er damit verstanden sein wollen, mag er auch nicht immer wissen, ob er irgendwo dazu gelangen wird. Denn einen beschränkten Kreis über sich im Unklaren zu erhalten, kann seinen guten Sinn haben, es mit der ganzen Welt zu thun, ist in sich selbst absurd, wenn es nicht eben einfach durch Schweigen geschieht. Kurz: der Schriftsteller muß in einer Unbedingtheit innerhalb des weiten Kreises seiner Leser verständlich sein, in welcher das für den Lehrer innerhalb des beschränkten seiner Zuhörer nicht nothwendig ist, und darum ist für den Lehrer, dem es um seine Verborgenheit ernstlich zu thun ist, die Schriftstellern verschlossen. Die Wahrheit davon hat mir erst die Gewalt der Thatsachen aufgedrängt, und so habe ich zwar als Lehrer mich von vornherein in die Thatsache gefügt, von Niemandem verstanden zu werden, aber erst unwillig und allmählich in die andere doch damit unzertrennlich verbundene, daß ich als Schriftsteller nicht wirken konnte. Der Gewalt der Thatsache aber konnte ich freilich bei meiner eigenthümlichen Stellung zur Theologie am allerwenigsten zu entrinnen hoffen. Gespannt wie ich bei meiner Entfremdung von aller Theologie mit der ganzen theologischen Schriftstellerei meiner Zeitgenossen war, konnte ich nur immer weniger daran denken, dieser Spannung den dem Schriftsteller gebotenen unzweideutigen Ausdruck zu geben, ohne meine Wirksamkeit als Lehrer zu compromittiren. So kam ich denn sehr bald dazu, allen, wie das sich nun in den Verhältnissen der Gegenwart zumal von selbst macht, so vielfach an mich drängenden Zumuthungen, mich an der Kritik der theologischen[110] Tageslitteratur zu betheiligen, mich zu entziehen – die Anzeige des Doulcet'schen Werks über Christenverfolgungen in den Göttinger Gel. Anz. vom Jahre 1884, zur Zeit 16 Jahre alt, ist soweit ich mich augenblicklich entsinne, die letzte der Art, die ich geschrieben, – was mir sonst zu schriftstellerischer Bearbeitung blieb, bedrohte mich nun unter den für mich gegebenen Umständen zu leicht dabei an die Grenzen des für Theologen noch Verständlichen zu gelangen und dabei um jedes Publicum zu kommen, was ich vielfach bei meinen Aufsätzen über die Anfänge der patristischen Litteratur und die der Kirchengeschichtsschreibung aus den Jahren 1882 und 1892 empfunden und auch erfahren habe. Zu diesem Grundmotiv meines langjährigen Verstummens auch als Schriftsteller – in das ich wider anfängliches eigenes Vermuthen durch mein Schweigen als Lehrer hineingezogen wurde, gesellte sich nun freilich auch noch die Nachwirkung meiner noch viel weiter zurückliegenden Unterschätzung hinzu, der ich mich auf Grund mangelhafter Selbstkenntniß oder vielmehr Selbstprüfung schuldig gemacht, ich meine die Indolenz meiner Natur. Ich habe als junger Mann wohl viel vom sogen. Kampfhahn in mir gespürt und eine gewisse Lust insbesondere, die ich am Widerspruch empfand, in dem ich mich gerade als Theologe mit meiner Umgebung befand, und die ich aus meiner Theilnahme am Kampfe der rationalistischen Kritik gegen die positive Theologie schöpfte. Nun war diese Lust nie sehr nachhaltig, und ich hätte im Grunde von jeher Ursache gehabt, achtsamer auf ihre geringe Standhaftigkeit zu achten, ehe ich mich entschloß, bei der Theologie zu bleiben. Nur weit energischere Befriedigung durch negatives Zerstören hätte mir Aussicht auf ernstere Erfolge eröffnet. Nun verwickelte mich der Widerspruch, den ich von vornherein in mir empfand, allmählich in schwierige, langwierige, ja schließlich nur mit meinem Leben zu lösende Conflicte. Diese Conflicte waren in meinem Falle nichts weniger als[111] religiöse und bezogen sich niemals auf die Unverträglichkeit meiner persönlichen Anhänglichkeit an das Christenthum und meiner kritischen Überzeugungen in Hinsicht auf seine wissenschaftliche Beweisbarkeit. Das Christenthum hat mich nie besessen und nicht eine Stunde habe ich ihm, glaube ich, im klaren Drange nach Befreiung von ihm widerstanden. Persönlich betheiligt bin ich in dieser Sache stets ganz anders gewesen: Was sich in mir auseinanderzusetzen hatte, war nicht Christenthum und Antichristenthum, sondern einerseits eine immer schärfer sich entwickelnde, sehr radicale Auffassung von Wissenschaft und Kritik und ein damit nicht ganz harmonisirender Character. Eine andere Vorstellung von Wissenschaft, soweit sie nicht lediglich der Aufgabe, einen Thatbestand an den Dingen und von ihnen ab zu beschreiben, dient, hat mich nie geleitet als die, wonach ihr obliegt das jüngste Gericht an den Dingen zu vollziehen. Zu vertreten hat sie an ihnen, soweit sie sich nicht selbst fälscht, auf jeden Fall nichts, wohl aber mit ihnen auf Kosten ihres Lebens (der Dinge Leben) fertig zu werden. Und dem entsprechend denke ich auch von wissenschaftlicher Polemik und zwar, ohne dabei in der gewöhnlichen Weise zwischen sachlicher und persönlicher Polemik zu unterscheiden. Mit persönlicher Polemik mir zu thun zu machen, habe ich nie ernste Veranlassung gehabt, aber vielleicht auch darum nie Gelegenheit, mir irgend welchen Glauben an die oben bezeichnete Unterscheidung zu erwerben, eine andere Überzeugung von ihr als die von ihrer gründlichen Unwahrheit. Polemik überhaupt ist meiner Ansicht nach wirksam nur, wenn sie ihren Gegenstand an den Wurzeln angreift. Milder verfahrend kann sie kaum der Gefahr entgehen, ihren Zweck diametral zu verfehlen und zu stärken, was sie entkräften will. Allein zu solchen Überzeugungen über Wissenschaft und Polemik gehört, um damit sich und Anderen erfreulich durchzukommen, ein anderer Mensch, als ich es bin und als welchen ich mich jetzt kenne. Aus Unlust[112] am Streit und an lauterer Negation gerieth ich mit der Theologie damit zum Verstummen, und vollends zur Einstellung aller Kritisirerei an zeitgenössischem Mitarbeiten fühlte ich mich besonders früh und stark gedrängt. Der Natur der Sache nach immer mehr zu einer gewissen Schonungslosigkeit neigend, wurden mir meine Recensionen damit persönlich um so unleidlicher – ich erwähne als Beispiel meine Recension von R. Schmidt Allg. Göttinger acad. Anz. 1882 Stück 42. Als Theologe der Disciplinirung durch ein Band höherer Gemeinschaft mit meinen Collegen völlig entbehrend, blieb mir nichts anderes übrig, als auf mich selbst als ihren Mitmenschen mich zurückzuziehen und mich als solchen selbst in Zucht nehmend mir Schweigen aufzuerlegen.

Was habe ich nun bei solchem Verhalten nicht alles fröhlich um mich aufwachen lassen, an dessen Aufwachsen ich selbst wenig Freude hatte! Und hier sind es nun zwei Gewächse, an welche sich für mich etwas wie Reue, dabei die Hände im Schooß behalten zu haben, knüpft, weil der Beruf dazu hindernd dazwischen zu treten, sich mir in mannigfacher Weise besonders aufgedrängt hat und mir auch das Bewußt sein nicht fehlt, daß mein Dazwischentreten nicht ohne Erfolg gewesen wäre. Das eine dieser Gewächse ist das groteske Ansehen Harnack's als Gelehrten, das sich nun über beide Hemisphären erstreckt und selbst bis in die noch ungewordene Zukunft seine Schatten wirft, das andere die Ritschl'sche Schule und ihre Erfolge in der Schweiz.

Über Harnack darf ich selbst wohl als »Überkritiker« reden, sofern ich selbst nicht immer »kritisch« mich zu ihm verhalten, sondern eine Zeit lang selbst die Hoffnungen, die man von ihm hegte, getheilt habe, zwar nicht solche, die sich an ihn als »Theologen« von Anfang an geknüpft haben mögen, als welcher er mich aber nie etwas angegangen und auch nie bekümmert hat, wohl aber Erwartungen, die er als Historiker des Urchristenthums erregen konnte. Habe ich[113] doch selbst in meiner Kritik seiner Abhandlung über das Muratorische Fragment schon ein öffentliches Zeugniß für diese Periode meiner persönlichen Schätzung abgegeben und damit ein Muster jener Gattung von polemischer Kritik geliefert, von der ich schon gemeint habe, daß sie dem Ansehen des Bestrittenen nur zu Gute kommen kann, und bin ich doch damit bei Harnack sogar nicht ohne Mitschuld an diesem Ansehen in seinen gegenwärtigen und von mir beklagten Dimensionen, was ich indessen doch durch ein weiteres Geständniß über jene Kritik und ihren Standpunkt erläutern muß. Zwar liegt mir die Abgeschmacktheit ganz fern, zu behaupten, daß dieser Aufsatz damals überhaupt mit irgend welcher providentiellen Rücksicht auf Harnack's keimendes Ansehen geschrieben ist – die schlichte Intention mich mit einem jüngeren Gelehrten über eine wissenschaftliche Controverse auseinander zu setzen, für dessen Meinung ich mich besonders und aufrichtig interessirte, spricht sich, meine ich, überdies zu unzweideutig aus der ganzen Haltung des Aufsatzes als seine Grundabsicht aus, als daß irgend welche nachträgliche Deutung meinerseits daran irre machen könnte – dennoch gestehe ich, daß ich von diesem Aufsatz doch schon etwas »anders« schied, als ich daran gegangen war, und jedenfalls dunkel, wie mir natürlich Harnack's Zukunft am Ende so gut wie am Anfang war, doch auf Befragen wenigstens am Ende weniger überzeugt von dieser Zukunft hätte reden mögen als am Anfang. Ich hatte vielmehr seitdem vom Verfasser einen unaustilgbaren Eindruck von wortreichem Dunkelmacher und Confusionarius.

Fußnoten

1 Solches radikales Unverständnis zu »verzeihen«, bin ich ja Bernoulli z.B. gegenüber wirklich in der Lage gewesen, und ich rede vom Maaße, in welchem ich solche Verzeihung zu gewähren bereit und im Stande bin, durchaus nicht wie der Blinde von der Farbe, sondern aus lebendiger Erfahrung.


Quelle:
Overbeck, Franz: Selbstbekenntnisse. Frankfurt a.M. 1966, S. 114.
Lizenz:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Prinzessin Brambilla

Prinzessin Brambilla

Inspiriert von den Kupferstichen von Jacques Callot schreibt E. T. A. Hoffmann die Geschichte des wenig talentierten Schauspielers Giglio der die seltsame Prinzessin Brambilla zu lieben glaubt.

110 Seiten, 4.40 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon