In der Hochbahn. Am Garderobentisch in Theatern und Konzerten. Essen von Austern und Krebsen. Schlußworte.

[408] Ueber die wichtige Verkehrspflicht, überall Passagen und Zugänge möglichst schnell frei zu machen, habe ich mich bereits ausführlich ausgesprochen; meine jüngsten Erlebnisse auf unserer herrlichen Berliner Hochbahn und am Garderobentische in Theatern und Konzert-Etablissements veranlassen mich, meinen früheren Auslassungen noch einiges zuzufügen.

Die Schnelligkeit im Verkehr der Hochbahn muß das Publikum beim Ein- und Aussteigen nach Kräften unterstützen. Wer aussteigen muß, suche sich kurz vor dem Halten des Hochbahnwagens in die Nähe des Ausganges zu begeben, indem er sich mit erhobenem Arm an der hierzu[408] an der Decke angebrachten Vorrichtung festhält. Kleinere Herren und Damen werden sich an den senkrechten Messingstangen festhalten. Der gesunde Menschenverstand erfordert es. daß das Aussteigen zuerst zu erfolgen hat, um so für neu einsteigende Fahrgäste möglichst Platz zu schaffen. Namentlich bei starkem Verkehr müssen die Einsteigenden, wenn sie keinen Sitzplatz mehr finden können, möglichst schnell und weit in der Richtung auf die Mitte des Hochbahnwagens vorgehen. Der Gesellschaftsmensch, auch der herkulisch Veranlagte, wird hierbei nur in äußerster Not gewaltsam drängen, er wird es zunächst mit friedlichen Mitteln versuchen, z.B. mit den Worten »Bitte, noch etwas weiter zu gehen!« Diese oder eine ähnliche Aufforderung wird man nach den Umständen sowohl durch den Ton der Stimme als auch durch geschmackvolle Beiworte, wie »freundlichst«, »gütigst« noch höflicher zu gestalten suchen. Das höchste Maß von Höflichkeit bei einer solchen Bitte ist wohl folgende Fragestellung, z.B. »Würden Sie die Gnade haben, usw.?« Diese Wortfassung ist in der vornehmsten Welt sehr gebräuchlich, z.B. bei großem Alters- oder Rangunterschied oder namentlich im Verkehrston[409] eines jungen Herrn mit einer altehrwürdigen Dame. Viele Herren halten den Ausdruck »Gnade« nur in diesem letzteren Falle für zulässig und markieren ihre Ergebenheit gegenüber bedeutend älteren oder höher gestellten Herren durch Ausdrücke wie »Güte« oder »große Güte«. Aber es geht natürlich überhaupt, auch altehrwürdigen Damen gegenüber, ohne »Gnade«; und wer auch in nebensächlichen Dingen, wie in Höflichkeitsphrasen, den Standpunkt des freien und stolzen Mannes wahren zu müssen glaubt, hat natürlich von diesem Standpunkt auch Recht, wenn er selbst die älteste weibliche Exzellenz nicht um diese oder jene »Gnade« bittet.

Am Garderobentisch in Theatern und Konzertsälen sollte das Publikum sowohl beim Abliefern als namentlich nach der Vorstellung beim Entnehmen der Bekleidungsstücke möglichst kurze Zeit vor dem Garderobentische stehen bleiben. Es ist für Jedermann, sowohl seiner selbst als auch des lieben Nächsten wegen, bequemer, vor der Vorstellung an einer freien Stelle abseits des Garderobentisches abzulegen und dann erst die Sachen in der Hand zu ihrer Abgabe an den Garderobentisch zu bringen.[410] Ebenso ist es bequemer, nach der Vorstellung, wo doch alles zu fast gleicher Zeit an den Garderobentisch zu drängen pflegt, die Sachen nur in Empfang zu nehmen, sich dann aber nicht am Garderobentische anzukleiden, sondern den Zugang für die Anderen sofort frei zu machen und sich abseits des Garderobentisches eine leere Stelle auszusuchen, wo man die zum Ankleiden erforderlichen Armbewegungen – beim Anziehen von Ueberschuhen auch Beinbewegungen – ausführen kann, ohne andere zu belästigen und – egoistische Gründe sind meist noch einleuchtender – ohne von Anderen bei den erwähnten Freiübungen belästigt zu werden. Die Bedienung an den Garderobentischen sollte angewiesen sein, nötigenfalls an das Publikum die Aufforderung zu richten: »Bitte von dem Garderobentisch mit den Sachen weiter zurückzutreten«. Auch wären vielleicht Plakate mit einer derartigen Aufforderung zweckdienlich. Ebenso zweckdienlich und doch so leicht zu beschaffen – »Sieh', das Gute liegt so nah'!« – wären in den Korridoren solcher öffentlichen Lokale bei genügendem Raume schmale leere Tische, oder andere Vorrichtungen, um die Garderobenstücke darauf legen zu können[411] bei dem Aus- und Ankleiden, auch einzelne Stühle für ältere Herrschaften! In engen Räumlichkeiten sollte man wenigstens, statt Tische und Stühle, Garderobenständer aufstellen oder allermindestens Kleiderriegel oder Aufhängehaken an den Wänden anbringen.

Wer am Garderobenschalter seine Sachen empfangen hat, soll nach der Seite kehrt machen oder abgehen, auf welcher er den Arm frei und nicht mit Kleidungsstücken belastet hat, um die Umgebung wenig zu belästigen. Man denke sich das Unheil, am Garderobentisch seine Ueberschuhe erhalten zu haben, diese in der rechten Hand zu halten und nun bei einer plötzlichen Drehung nach rechts mit dem an den Ueberschuhen oder auch am Stock oder Schirm haftenden Straßenschmutz eine Nachbarin oder einen Nachbar anzustreichen. Wenn man in diesem Falle links um Kehrt macht, so hat die linksstehende Umgebung Zeit, einer Berührung mit der beladenen rechten Seite des Kehrtmachenden auszuweichen. Folgende Verse aus dem Gedicht »Eine Anstandsstunde« beziehen sich zwar auf das Verhalten am Eßtisch; aber sie sind viel leicht noch beherzigenswerter für das Verhalten im Gedränge am Garderobentisch:[412] »Herrscht an dem Tische große Enge – Dann mache man sich möglichst schmal! – Aus Artigkeit wird im Gedränge – Sogar der Elefant zum Aal!« Nur wende und winde man sich im Gedränge nicht zappelnd wie ein Aal, sondern langsam und mit vornehmer Ruhe. Wer Zeit hat, wird praktischer Weise nach beendeter Vorstellung im Theater- oder Konzertraum noch so lange zurückbleiben, bis es am Garderobentisch leerer geworden ist und die Korridore von jenen hastigen Menschen frei sind, die einer begründeten Zeitersparnis wegen, oder aus Nervosität am Schluß einer Vorstellung ein förmliches Wettrennen nach ihrer Garderobe veranstalten.

Ueber Manieren bei Tisch habe ich mich besonders in meinen ersten Plaudereien ausführlich geäußert; über das Essen von Austern und Krebsen möchte ich noch einiges hinzufügen. In Hamburg habe ich schon vor langer Zeit, in den vornehmsten Restaurationen, die Auster ohne Bart serviert erhalten, also in dem Zustande, in dem man sie verzehrt, später auch hin und wieder an anderen Orten und in Privathäusern. Diese Art des Servierens ist natürlich für sogenannte Konzert-Austernesser, die möglichst viel[413] in kurzer Zeit vertilgen wollen, besonders angenehm. Die Austern gelten für ein so vornehmes Gericht, daß auch ihr Massenvertilger nicht als Vielfraß gilt, sondern, wenn er über großen Mammon verfügt, im neidlosen Augenzeugen seiner Austernverkonsumirung nur den Gedanken erregt: »Wohl ihm, daß er sich das leisten kann!« So appetitlich eine Auster aussieht, die in bartlosem Zustande in ihrer Schale serviert wird, so unappetitlich könnte aber doch schließlich in der Küche verfahren worden sein, um die Auster von ihrem Bart zu trennen. Aus diesem Grunde ziehen es viele vor, die Auster in der im Allgemeinen auch üblichen Weise serviert zu bekommen, nämlich noch zusammenhängend mit ihrem für das Auge unschönen Anhängsel, dem sogenannten Austernbart. Mit der besonderen Austerngabel, deren eine Zinke breiter und zum Schneiden eingerichtet ist, trennt man den Bart vom eßbaren Teil der Auster, führt diesen letzteren mit der Gabel zum Munde und schlürft dann, aber möglichst lautlos, die in der Austernschale befindliche Flüssigkeit, indem man die Austernschale direkt an die Unterlippe lose ansetzt. Wenn auch die Austernschale unschön aussieht, so gelten doch eben[414] selbst lose sandartige oder faserige Teilchen an der Außenseite der Schale, von denen der Mund beim Ansetzen der Schale manchmal berührt wird, nicht für ekelhaft; dazu hat die Auster eine viel zu poetische und herrliche Heimat. Dem Himmel sei's gedankt, allerdings, daß man nicht alles zu essen braucht, was aus derselben Heimat, aus dem »Ewigen Meer« stammt; für Manchen ist sogar die Auster etwas Unappetitliches und auch der Liebhaber, der sie fast schon beim bloßen Anblick im Geiste vertilgt, dürfte zugeben, daß der Anblick dieses quabbligen, schleimigen Etwas entschieden ästhetisch unschön ist. Wem dies Gericht unsympathisch ist, soll das bischen Mut haben, zu erklären, daß er die Austern nicht zu würdigen versteht und sie, z.B. bei einem Diner, wenn ich grade neben ihm sitze, mir anbieten. Ich verpflichte mich hierdurch, ihm gefällig zu sein. Es ist ein Jammer, wenn jemand anderen Menschen die Austern wegißt, nur weil er sich schämt zu bekennen, betreffs der Auster kein gourmand oder gourmet zu sein. Der Ausdruck gourmet ist noch »erstklassiger« als gourmand für das biedere deutsche Wort »Leckermaul«. Eigentlich bedeuten die zwei Worte naturgemäß auch[415] zweierlei, Immanuel Kant oder Arthur Schopenhauer würden diese beiden Ausdrücke wohl auf andere Weise erklärt haben, aber vielleicht auch zugeben, daß die Anführung folgender Beispiele aus der materiellen Neigung eines gourmand und eines gourmet geeignet ist, die Begriffe richtig zu erfassen: Ein gourmand wird für gut zubereiteten Schweinebraten schwärmen, ein gourmet für guten, also grauen und großkörnigen Kaviar. Der gourmand wird absichtlich von seinem guten Schweinebraten auch viel vertilgen, der gourmet wird bedeutend mehr auf die Qualität achten und höchstens, ganz unwillkürlich, aus Versehen viel grauen und großkörnigen Kaviar essen. Aber, zurück zur Auster und zur Art und Weise, wie man sie noch essen darf, ohne auch nur im Geringsten seinem Rufe vornehmer Manieren zu schaden. Für wen dies Letztere gleichgültig ist und wer gute Zähne hat, der darf auch die Austernschale mitessen.

Als Gesellschaftsmensch darf man die Auster auch in der Schale lassen und sie, nach vorheriger Trennung vom Bart, direkt zum Munde führen, indem man die Austernschale an die Unterlippe ansetzt und so durch Kippen[416] der Schale die Auster samt der – je nach Geschmack – mit Zitronensaft vermischten Flüssigkeit hinter das Gehege der Zähne in den Mund hinein gleiten läßt. Manche verzehren auch den Austernbart mit; eine, »erdrückende« Majorität aber verabscheut ihn; und wer sicher gehen will, bei Hineinschieben der Auster in den Mund den Austernbart nicht auch einzuschlürfen, der entfernt ihn eben vorher mit dem Austernmesser aus der Schale, bevor er diese an den Mund ansetzt.

Ich habe schon einige Male, wie von Wunderkindern, von Menschen erzählen hören, die Krebse nicht mit den Fingern berühren; gesehen habe ich solche noch nicht. Es ist hier die Rede vom ungefährlichen Essen toter Krebse, nicht vom gefährlichen Fangen lebendiger. Allgemein bedient man sich zum Essen der Krebse neben dem Krebsmesser vor allem seiner Finger. Man bricht den Krebs mit den Fingern aus dem vorderen Panzer, der sogenannten Krebsnase, heraus, führt den Schwanz mit den Eingeweiden zum Munde, um das Innere und den Saft auszusaugen. Dann wird der Schwanz mit dem Messer von seiner Schale befreit und gegessen. Die Gewohnheits-Krebsesser[417] verschmähen, außer bei großen Krebsen, den sogenannten Solokrebsen, vielfach die Scheren, da deren Bearbeitung zu lange aufhält; andere wieder tadeln diese Bequemlichkeit, da der Inhalt der Scheren besonders »schmackhaft« wäre. Da der Krebssaft Flecke hinterläßt, so gibt man zum Krebsessen besondere und zwar kleine bunte Krebsservietten. Aus eben diesem Grunde ist es für reinliche Menschen sehr angenehm, zum Krebsessen auch Fingerschalen mit lauem Wasser zu bekommen. Da liebenswürdige Wirte bis zur Ueberzeugung vom Gegenteil in ihren Gästen doch auch Reinlichkeitsdrang vermuten sollten, so wäre eine noch weitere Verbreitung der Sitte, zum Krebsessen Fingernäpfe darzureichen, sehr erfreulich.

Wer in seinen äußeren Manieren vornehm sein will, der befleißige sich auch möglichster Geräuschlosigkeit beim Schlürfen der Auster und des Krebssaftes, wie überhaupt beim Essen und Trinken. Nachdem man einen Schluck Wein in den Mund genommen hat, durch Gurgeltöne und unter gleichzeitigem Aufstecken einer halb wichtigen halb begeisterten Miene das Verständnis für die Güte des Weines dartun zu wollen, eine solche geräuschvolle Lobesbekundung[418] verstößt ebenfalls gegen den guten oder – milder gesagt – gegen den besten Ton.

Für Interessenten, das heißt Solche, die auch äußerlich möglichst vornehm sich benehmen wollen, ist alles dieses doch erwähnenswert. Aber in hohem Grade engherzig und ungerecht ist es, seine Mitmenschen nach diesem oder jenem Mangel an guten Formen beurteilen zuwollen. Wer nach schlechten oder guten äußeren Gewohnheiten und Manieren eines Menschen auf seinen inneren wahren Wert schließt, wird sich gar oft irren und seinen Nächsten oft zu niedrig oder zu hoch in der Beurteilung seines wahren inneren Wertes einschätzen.[419]

Quelle:
Pilati, Eustachius Graf von Thassul zu Daxberg: Etikette-Plaudereien. Berlin 3[1907], S. 408-420.
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