Verhalten bei Zeremonien Andersgläubiger. Ritterlichkeiten gegen Damen. Schutz- oder Klapperdeckchen.

[397] In meiner letzten Plauderei sprach ich über das Aufbehalten von Damenhüten und Herrenzylindern. Eine Zuschrift aus dem Leserkreise gibt mir als wohl bemerkenswerten Grund für das Aufbehalten von Herrenzylindern in unseren Variété-Theatern das Mangelhafte vieler Garderobenablegestellen an; diese wären oft so eng, daß die Sachen, namentlich Hüte, die man dort abgibt, leicht gedrückt würden. Deshalb nehme man den Zylinder, der im neuen oder frisch gebügelten Zustande eine besonders zarte Behandlung verlange, gern mit in das Lokal hinein. Da es langweilig sei, den Zylinder in der Hand zu halten, so setze man ihn auf. – Also der Kopf und der damit verwachsene menschliche Körper dient dann als Kleiderständer! Ein[397] Unglück bleibt es darum doch für die Hinterleute, wenn ein solcher männlicher Körper, nach oben zu durch den hohen Zylinder verlängert, die Aussicht nach der Bühne versperrt. Einfacher und naheliegender ist es, für das Garderobengeld eine sorgfältige Behandlung der Garderobe, auch des etwa abgegebenen wenig widerstandsfähigen Damenhutes und des tadellos glänzenden Herrenzylinders zu verlangen. Uebrigens glaube ich, daß diesem Verlangen in der Tat auch fast allgemein entsprochen wird.

Zuweilen hörte ich Protestanten ihre Besorgnis vor dem Betreten katholischer Kirchen aussprechen, sie wüßten nicht, wie sie sich bei den vielen, für sie unverständlichen Zeremonien während eines katholischen Gottesdienstes zu benehmen hätten Für Touristen, welche sehenswerte Gotteshäuser besichtigen, auch z.B. für kommandierte Offiziere oder geladene Hochzeitsgäste, kann der Fall eintreffen, daß sie andersgläubige Gotteshäuser betreten und dort auch gottesdienstlichen Handlungen beiwohnen. Gebildete Menschen, ob Christ oder Jude oder sonst etwas, werden bei solchen Gelegenheiten durch ihr peinlich geräuschloses und sonstiges tadelloses Verhalten ihre Achtung vor fremdreligiösen[398] Gebräuchen bekunden. Die höchste Achtungsbezeugung wäre die, daß man sich bei besonders feierlichen Momenten einer gottesdienstlichen Handlung vom Platze erhebt. Mehr, etwa ein Nachahmen unverstandener religiöser Gebräuche, wäre unverständig und unwürdig. Nur unverständige Menschen könnten solches verlangen; und diese sollen einem nicht maßgebend sein. In katholischen Gegenden hört man oft über das Benehmen Andersgläubiger bei Prozessionen klagen. Zuweilen entspringen solche Klagen einer übertriebenen Reizbarkeit; berechtigt sind sie natürlich dann, wenn absichtliche Nichtachtung oder augenscheinliche Verhöhnung vorliegt. Aber auch dann sollte tiefe Frömmigkeit von ihrem Standpunkt aus eher Mitleid mit dem Bildungsmangel der Betreffenden als Zorn empfinden. Mehrere neuerdings ergangene Anfragen aus dem Leserkreise betreffen das Verhalten des Herrn zur Dame in folgenden verschiedenen Fällen.

Bekanntlich befiehlt der gute Ton oft Abweichungen von dem Schema, daß der Dame immer der Vortritt gebührt. Bereits früher erwähnte ich als eine solche Abweichung, daß der Herr einer Dame stets vorangehen wird,[399] wenn er ihr, also z.B. bei Menschenanhäufungen oder in vollen Räumen, Bahn brechen muß und ein bequemes, unbelästigtes Hindurchkommen ermöglichen will. Auch beim Hinaufsteigen auf einer schmalen Treppe, z.B. beim Besteigen eines Turmes, würde es die Dame oft genieren, wenn der Herr ihr nicht vorangehen, sondern folgen wollte. Wenn Herr und Dame nicht nebeneinander gehen können, wird auch wegen der Schleppe der Herr die Stufen hinauf wie herunter am besten vorangehen. Beim Hinuntersteigen auf einer steilen oder dunklen Treppe hat die Dame auch an dem vorangehenden Herrn nötigenfalls eine Stütze. Für das Hinausgehen allerdings würde es aus diesem letzten Grunde sich manchmal empfehlen, daß der Herr der Dame folgt. Es kommt eben ganz auf die Umstände an. Wenn beim Verlassen eines Turmes irgend eine komplizierte Falltür zu schließen ist, so wird die Stufen hinunter, eben aus diesem Grunde, der Herr zuletzt gehen müssen. Wahres Taktgefühl wird in jeder Lage das Richtige zu finden wissen; oft wird es sich empfehlen, seiner Dame kurz den Grund anzugeben, wenn man es für richtig hält, als Herr voranzugehen.[400]

Wenn ein Herr und eine Dame einen Wagen besteigen, so wird im allgemeinen der Herr den Wagenschlag öffnen, der Dame beim Einsteigen behilflich sein und dann nach ihr den Wagen besteigen. Da der rechte Platz der Ehrenplatz ist, und der Herr sich gewöhnlich auf die linke Seite der Dame setzen wird, so ist die Sache sehr einfach, wenn man den Wagen von der linken Seite her besteigen kann. Hält der Wagen aber so, daß die Dame ihn von rechts besteigen muß, so wird der Muster-Etikettenmensch der Dame zunächst beim Einsteigen helfen und ihr eventuell dabei sagen: »Bitte, bleiben Sie rechts sitzen, meine Gnädigste, ich werde von links einsteigen!« So überhaupt sitzen zu bleiben, dünkt mancher Dame hart, aber auf dem Ehrenplatz »rechts« sitzen zu bleiben, ist etwas anderes und ihr gutes Recht als Dame. Sodann wird der gedachte und in vielen wirklichen Exemplaren auch existierende Etikettenmensch um den Wagen herumgehen, von links einsteigen und sich auf die linke Seite der Dame setzen. Der Kutscher ist unter Umständen bei diesem etwas komplizierten, aber durchaus stilgerechten Verfahren auch vorher zu avertieren, daß er nicht, namentlich beim Zuschlagen der rechten Wagentür, die[401] Dame entführt, bevor der Herr, nach seinem Spaziergang um den hinteren Teil des Wagens herum, glücklich seinen Platz links neben der Dame eingenommen hat. Sind Ort und Zeit zur Entfaltung dieses immerhin etwas umständlichen Zeremoniells nicht geeignet – z.B. auf einer belebten Berliner Straße, oder wenn man es sehr eilig hat –, so wird man es als Formenmensch doch immer zu vermeiden suchen, sich in einem engen Wagenraum bei der Dame vorbei zu zwängen, um auf ihre linke Seite zu gelangen. Müssen Herr und Dame, beide, von rechts einsteigen, so wird in solchem Falle der Herr gewöhnlich lieber zuerst einsteigen und dann der nachsteigenden Dame vom Wagen herab, von oben her, behilflich sein. Dies wird stets geschehen, wenn ein Diener oder überhaupt ein dritter Jemand bereit ist, der Dame beim Einsteigen behilflich zu sein. Bedarf die Dame einer nicht nur höflich markierten, sondern auch tatkräftigen Hilfeleistung seitens ihres Begleiters beim Einsteigen, so wird eben der Herr unter Umständen ausnahmsweise nach der Dame ebenfalls von rechts den Wagen besteigen und entweder sich im Wagenraum an der Dame vorbei an deren linke Seite drängen müssen oder[402] auf der rechten Seite der Dame Platz nehmen müssen. Es soll ja im Menschenleben noch größeres Unglück geben, als diese Abweichung vom Etikettenschema.

Außer dem Schuhmacher, beim Maßnehmen usw., kommt auch der Gentleman in die Lage, den Fuß einer Dame berühren zu müssen, wenn er ihr den üblichen Ritterdienst erweist, ihr aufs Pferd zu helfen. Diese Dienstleistung hat folgendermaßen vor sich zu gehen. Die Dame nimmt die Zügel in die rechte Hand und hält sich außerdem mit der rechten Hand am Sattel fest, die linke Hand stützt sie auf die Schulter des in gebückter Haltung vor ihr stehenden Herrn. Die Dame setzt den linken Fuß in die gefalteten und mit den inneren Handflächen nach oben gehaltenen Hände des Herrn. Der Herr zählt, sobald die Dame zum Absprunge bereit ist, bis auf drei und hebt auf dieses »drei!« die Dame in der beschriebenen Weise mit einem sogenannten Wuppdich empor und streift ihr noch, sobald sie auf dem Pferde Platz genommen hat, den Steigbügel über den linken Fuß. Nur wenn der Gentleman die nötige Gewandtheit zu solchem Ritterdienste hat, wird er ihn der Dame leisten, während ein dienstbarer Geist vor dem Pferde[403] dasselbe hält. Sonst ist es natürlich angezeigt, Stallknecht und Gentleman vertauschen die beschriebenen Funktionen beim Aufsitzen der Dame, ehe dies durch die Schuld des Herrn mißlingt.

Wie bereits beim Thema »Besteigen des Wagens« erwähnt, gilt der rechte Platz als der Ehrenplatz; der höfliche Mann wird also auch zu Fuß im allgemeinen links neben der Dame, oder links neben einem Herren, den er ehren zu müssen glaubt, einhergehen. Es ist vornehmer, wenn solche äußere Höflichkeiten mit möglichst geringer Umständlichkeit ins Werk gesetzt werden und als etwas Selbstverständliches auch glatt und kaum bemerkbar von statten gehen. Man begebe sich als Herr mit vornehmer Ruhe, nicht sprungartig und hastig, auf die linke Seite einer Dame oder eines Herrn, den man seines Alters oder seiner sozialen Stellung wegen ehren will. Das Führen der Dame – Arm in Arm – auf der Straße geschieht jetzt meist so, daß der Herr in den Arm der Dame einhakt, sich also auf der Straße – entgegen der ursprünglichen Sitte – von der Dame eigentlich führen läßt. Es ist ein Irrtum, wenn man meint, diese Mode sei nur aufgekommen, weil man eben[404] etwas Apartes, von der alten biederen Sitte Abweichendes haben wollte. Es ist tatsächlich eine Annehmlichkeit für die Dame, namentlich wenn sie ihr Kleid, der Schleppe wegen, mit der linken Hand anheben muß, daß der Herr, den Arm krümmend, einhakt und die Dame den Arm gestreckt halten kann.

Uebrigens, wenn irgend welcher äußeren Umstände wegen beim Wandern »zu Zweien im Maien« oder in jedem anderen Monat der rechte Platz der entschieden unbequemere ist – z.B. wenn wenig Platz ist, und der Weg auf der rechten Seite schlecht ist oder steil abfällt, oder auch in Oesterreich, wo man nach links ausweicht, bei großem Gedränge – so wird der gewandte, ritterlich fühlende Mann seine Dame ganz selbstverständlich auf seiner linken Seite, also abweichend vom Höflichkeits-Schema, gehen lassen.

Wie »bei's Zivil«, so ist es auch für Offiziere Sitte, mit der linken Hand zu grüßen, wenn sie am rechten Arm eine Dame führen, und zwar auch Vorgesetzten gegenüber. Also der jüngste Leutnant, der seine Mutter am Arm führt, grüßt den kommandierenden General mit der linken Hand, ohne seine Mutter vom rechten Arm los zu lassen. Nicht nur die Mutter,[405] sondern auch die jüngste Dame gilt für den Offizier in dieser Hinsicht im Vergleich zum ältesten General als der höhere Vorgesetzte, natürlich nur außer Dienst; denn im Dienst führt der Offizier keine Dame am Arm. Eine Ausnahme von dieser ritterlichen Etiketten-Vorschrift – schon des dann nötigen Frontmachens wegen – besteht für den deutschen Offizier, wenn er ein Mitglied des deutschen Kaiserhauses oder des Herrscherhauses seines engeren deutschen Vaterlandes trifft. Dann hat der Offizier die Dame an seinem Arm selbstverständlich vor Ausübung der Ehrenbezeugung loszulassen.

Eine Leserin der »Deutschen Warte« wünscht, daß ich mich über die »kleinen, durch Handarbeiten verzierten Tellerdeckchen und Eisdeckchen« äußere. Zwei Damen, mit denen ich über dies Thema konferierte, nannten mir als Bezeichnungen für diese Zierläppchen auch die Ausdrücke »Klapper- oder Schutzdeckchen«. Diese beiden Ausdrücke geben den Zweck dieser Dinger an. Gewöhnlich bekommt man gegen Ende eines feierlichen Mittagessens oder Diners für Eis, Obst und Nachtisch folgendes Service vorgesetzt: Einen mittelgroßen Teller, oft mit mehr oder minder kunstvoller Porzellan-Malerei, darauf ein[406] solches Teller-, Eis-, Klapper- oder Schutzdeckchen, und auf diesem Deckchen den kleinen Eisteller. Diese Eisteller sind meist auf mehreren niedrigen Füßen ruhende kleine Glasschalen, welche ohne schützende Decke die Malerei der unteren Teller leicht beschädigen könnten durch Hin- und Herschieben des Eistellers auf der bemalten Oberfläche des unteren größeren Tellers, daher der Ausdruck »Schutzdeckchen«, weil sie Schutz gewähren sollen, nämlich Schutz für den unteren Teller; und Klapperdeckchen, weil sie Klappern vermeiden sollen, Klappern beim Hinsetzen des Services, Klappern beim Eisessen vom oberen Teller. Sobald die Bedienung den Eisteller fortgenommen hat, so nimmt man als Tischgenosse seinerseits selbst das Deckchen herunter und placiert es unter den Obstteller oder daneben, bevor man vom Nachtisch, Käse, Obst, Sellerie, Konfekt, zulangt. Die genannten Deckchen also sollen das löbliche Streben der tafelnden vornehmen Welt nach möglichster Geräuschlosigkeit unterstützen – der Geräuschlosigkeit beim Hantieren mit dem Besteck, und zwar beim Berühren der Teller mit dem Besteck.[407]

Quelle:
Pilati, Eustachius Graf von Thassul zu Daxberg: Etikette-Plaudereien. Berlin 3[1907], S. 397-408.
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