Der ausschlaggebende Instinkt.

[11] Alles kann man nehmen und geben, niemals – den Instinkt! Schwer zu definierender Begriff. Mit dem Takt hat er vieles gemeinsam, aber sein Verhältnis zu diesem entspricht dem einer »grande amoureuse« zu einer kleinen Bohémienne.

Takt ist die Klippe der Parvenüs, Instinkt der Fallstrick der Frau. Den Instinktbegabten ohne Erziehung steht die Welt offen – alles ist ihnen erreichbar. Die junge Dame mit bester Kinderstube bleibt niveaulos – ohne Instinkt. Man hat ihn – oder man hat ihn nicht! Mehr läßt sich darüber kaum sagen.

Eine innere Stimme, ein stärkerer Wille, ein zweites Ich – dirigiert: »Tu das, laß dies, jetzt verschwinde, da mußt du hingehen, brich das Gespräch ab, lächle leise, nein, das verstehst du nicht, hier kannst du aufpassen, jene Eigenschaft fehlt dir vollständig, die andern denken das Gegenteil – sei still, darin mußt du dich verbessern, verrate dich nicht, dein Gefühl in Reserve – dein Verstand zuerst, nicht unnötige Hemmungen – aber immer Dekorum, ich wache für dich – gib acht!«

Instinkt ist nicht mit Gewissen zu verwechseln, er ist amoralisch. Instinkt ist unser aufrichtigster Liebhaber, er entscheidet Lebensschicksale; nicht unsre leiblichen Freunde!


Der ausschlaggebende Instinkt

Quelle:
Reznicek, Paula von: Auferstehung der Dame. Stuttgart 7[o.J.], S. 11-12.
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