Die Venus vom Kilo.

[48] Sie saß in einem Sessel zusammengekauert und weinte herzzerreißend. Er kniete vor ihr und bestürmte sie: »Hast du Kummer, Darling, ist jemand krank geworden, mußt du abreisen, hast du Schulden gemacht, soll ich dir Geld leihen ...?«

Selbst bei »Geld« hob sie den Kopf kein bißchen und schluchzte erneut. Der Fall schien ernst. Er versuchte weiter: »Hat Putzi dein Georgettekleid zerrissen, Max den Wagen kaput gefahren, der Lido keine Zimmer reserviert?« Keine Antwort. »Um Gotteswillen, was kann geschehen sein?« Ein letzter Versuch: »Hör' mir mal jetzt zu, Cilly, ich will dir helfen, ich werde alles für dich tun, was es auch sei, hab' Vertrauen und sprich dich aus ...«

Cilly hob wütend den Kopf, und es sprudelte von ihren Lippen: »Wie willst du mir denn helfen, wenn ich zwei Tage hintereinander ein Viertelpfund zunehme!«

Typischer Fall. Es gibt kaum etwas Schlimmeres heutzutage. Es grassiert das »Schlanksein« wie eine Epidemie. Aber es hat – wenn nicht im Übermaß – seine Vorteile. Früher: Neun Uhr morgens ... Geschlossene Vorhänge, geschlossene Augen, geschlossene Türen. Tempi passati. Um halb neun Uhr kommt die Masseuse, oder es wird geturnt, oder es wird gepunktrollt, oder es wird gelaufen, oder es wird – ganz egal was, Bewegung wird auf


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alle Fälle gemacht. Und dennoch, diese Männer! Da kommen sie dann nach Hause- oder abends im Theater auf eine Loge weisend, und sagen: »Ich habe soeben eine Frau gesehen, die war feenhaft schlank, immer noch drei Pfund dünner als du.« – Wenn wir so kritisch wären ...[49]

Quelle:
Reznicek, Paula von: Auferstehung der Dame. Stuttgart 7[o.J.], S. 48-50.
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