Ängstliche Reise von Stadt Weerd

[193] Ich traf nämlich im Wirtshause verschiedene Reisende, welche, wie ich, nach Maastricht und Aachen reisen wollten, weshalb ich die Einladung, in ihrer Gesellschaft zu reisen, ohne Bedenken annahm. Während sie ihre Zeche bezahlt hatten, war ich zu einem Kaufmanne gegangen,[193] um mir Tabak zu kaufen. Die Gesprächigkeit desselben hatte mich etwas verweilt, und als ich ins Wirtshaus zurückkam, waren meine Reisegefährten mit meinen Sachen auf und davon. Ich lief daher eiligst auf den Weg nach Roermond, sah mich allenthalben nach ihnen um, ohne sie wahrzunehmen. Meine Lage grenzte an Verzweiflung, da ich meine Brieftasche mit eingepackt hatte; ich eilte daher in einem Odem nach Roermond, durchsuchte darin alle Wirtshäuser nach ihnen und ließ mich, da ich sie nirgends fand, über die Maas setzen, aber alles vergebens. Jetzt war guter Rat teuer! Zum Glück erinnerte ich mich, daß ich dem Wirt zu Stadt Weerd meine Brieftasche und Papiere gezeigt hatte, deshalb eilte ich dahin in der Hoffnung zurück, durch seine Fürsprache vielleicht einen andern Paß zu erhalten. Meine Hoffnung hatte mich nicht betrogen; er brachte mich zu einem gewissen Herrn Regierungsrat, bei welchem er mir bezeugte, daß mir meine Sachen und Briefschaften gestohlen worden wären. Der Herr Regierungsrat war so gütig, mir über alles dieses ein gerichtliches Attestat auszustellen, welches mir so vorteilhaft war, daß ich damit nicht nur meinen Weg bis Aachen fortsetzen konnte, sondern deshalb auch unterweges oft und reichlich beschenkt wurde. In den Wirtshäusern, wo ich einkehrte, hatte ich freie Zehrung, und eine ehrliche Frau, die ich um den Betrag meiner Zeche frug, antwortete mir: »Mien leif Heer, wat weel ju my bethalen, ga go Grot gestaalen, ek weel ju no wat thu geehen, dat ju guen Weeg bevoordereen koonen.« Abermals ein Beweis, daß die Holländer zum Teil weit mehr tätige Menschenliebe besitzen als meine gepriesenen deutschen Landsleute. Ja, es ging soweit, daß eine Gemeinde für mich eine Kollekte einsammeln lassen wollte, welches ich jedoch nicht annahm, da ich durch die mir gemachten Spenden mehr Geld empfangen hatte, als meine Sachen wert waren.

Als ich nach Maastricht kam, gab ich mir zwar alle Mühe, die Reisenden auszukundschaften, da mir es aber[194] nicht gelang, so ergab ich mich in mein Schicksal und setzte meine Reise nach Aachen fort, um daselbst einige Bäder zu brauchen, da ich fühlte, daß ich nicht ganz gesund war.

In Aachen trat ich im »Reisenden Manne« ab, welches Wirtshaus mir als eine gute und wohlfeile Herberge geschildert worden war. Um das Bad zu brauchen, mußt ich alle Tage nach Burtscheid gehen. Bei dieser Gelegenheit pflegt ich manchmal auch in ein Wirtshaus zu gehen, um eine Bouteille Bier zu trinken. Eines Tages hatt ich dies eben auch getan, als ich bemerkte, daß ein mir gegenübersitzender Mann mich anfangs sehr aufmerksam ansah und dann mich frug, wo ich denn herkäme. Auf meine Antwort: »Von Amsterdam über Stadt Weerd!« fuhr er fort: »Wie kömmt es denn, daß Sie sich hier einfinden, da es scheint, daß Sie mit niemanden Bekanntschaft haben?« – »Bekanntschaften«, erwiderte ich, »kommen einen manchmal teuer zu stehen, besonders wenn sie neu sind; diese Erfahrung habe ich erst auf meiner Reise in Stadt Weerd gemacht, wo mich eine saubere Gesellschaft, welche mit mir nach Maastricht reisen wollte, um mein ganzes Reisegepäck geprellt hat.« Hierauf erzählte ich ihm den ganzen Vorfall.

»Gott im Himmel, ist es möglich? Sie also sind der Mann? Sein Sie unbesorgt, Ihre Sachen sind Ihnen unverloren! – Ich habe in Maastricht mit diesen Leuten in einem Wirtshause logiert und aus ihrem Munde gehört, daß sie Ihrentwegen schon einen Tag unterweges geblieben wären und auf Sie gewartet hätten. Zwar sagten sie, nun kommt der Mensch nicht, laßt uns die Sachen verkaufen! Dagegen aber setzte sich einer derselben aus allen Kräften und erbot sich, erst noch einen Tag zu warten, und wenn Sie dann nicht kämen, so wolle er die Sachen mit nach Aachen nehmen lassen, wo man sie auf den Fall verkaufen könnte, wenn Sie in einer gewissen Zeit nicht ankämen. Vielleicht wären unentbehrliche Briefschaften in dem Pack; auch wäre es ratsamer, den[195] Verkauf bis dahin aufzuschieben, damit sie nicht etwa dieser Sachen wegen für Diebe ausgeschrien würden. Da der eine aber von der Gesellschaft abgehen wollte, so gab Ihr Verteidiger ihm dafür, daß er Ihre Sachen abwechselnd mit getragen habe, etwas Geld.« Noch sprachen wir von der Sache, als, zu meinem Erstaunen und zu nicht geringer Freude, die Fremden mit meinem Pack in die Stube traten. »Nu, hab ich nicht recht«, rief der eine, als er mich erblickte. »Besser ist besser!« Und nun boten sie mir alle freundlich die Hand und wiederholten mir, was der Mann mir schon gesagt hatte. Sie waren von Stadt Weerd gerade aus dem Wirtshause die Straße nach Maastricht gegangen und hatten gemeint, ich würde sie wohl noch einholen, aber vergebens. Ich dankte ihnen für ihre gehabte Mühe, bezahlte die Abendzeche für sie und gab ihnen noch einen Kronentaler, womit sie vollkommen zufrieden waren. Und wer war froher als ich, als ich mein Bündel wieder auf meinem Buckel hatte und damit nach meinem Quartier zuwanderte!

Indessen kamen mir diese Sachen endlich doch teuer zu stehen, da der sonst ehrliche Mensch mich fast täglich besuchte und mich für ihn bezahlen ließ. Diese Ausgaben und die Badekosten in Burtscheid machten mein Geldchen so dünne, daß ich in die größte Verlegenheit geraten wäre, hätte mich ein lutherischer Kaufmann auf meine guten Attestate nicht so freigebig unterstützt, daß ich mich davon noch eine Zeitlang in Aachen halten konnte. Durch diesen Ehrenmann erfuhr ich auch, daß der berühmte Schriftsteller, der Vizepräsident Herder aus Weimar, als Badegast zu Aachen wäre. Diese Kunde war mir doppelt erfreulich, weil ich nicht nur durch den Bedienten desselben erfuhr, wie es in Weimar stehe, sondern auch von dem Herrn Vizepräsidenten selbst beschenkt und empfohlen wurde.

Fußnoten

1 Hochzeit.


Quelle:
Sachse, Johann Christoph: Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers. Von ihm selbst verfasst, Berlin 1977, S. 196.
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Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers
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