Reise zu Wasser nach Cuxhaven

[93] Im März des Jahres 1781 kam Befehl, daß die Truppen sich zum Absegeln bereithalten sollten. Von dieser Zeit an verging fast nicht ein Tag, an dem nicht eine Exekution vorgefallen wäre.

In den ersten Tagen des April wurden die Truppen wirklich eingeschifft und gingen nach Ritzebüttel ab, wohin ich mich mit meinem jungen Herrn gleichfalls in einem Boote begab, weil derselbe diese Gelegenheit benutzen wollte, um eine Reise nach England zu machen.

Auf den Schiffen befanden sich eine Menge Soldaten, welche mit Gewalt zu der Expedition nach Amerika weggenommen worden oder sonst mit ihrer Lage unzufrieden waren. Da die Schiffe bei Cuxhaven einige Tage stilliegen mußten, so gingen daselbst die Herren Offiziere ans Land, um sich's noch wohl sein zu lassen. Dadurch erhielten die Mißvergnügten Gelegenheit, sich miteinander wegen der Desertion zu beratschlagen, worüber ein ganzes Bataillon sich vereinigte. Demnach gingen immer je dreißig und dreißig Mann unter der Androhung vom Schiffe, den wachthabenden Offizier zu erschießen, wofern er den geringsten Lärm machen würde.

Schon hatten die ersten dreißig Mann einen ziemlichen Vorsprung gewonnen, als der Desertionsversuch der folgenden von einem andern Schiffe aus bemerkt und deswegen Lärm gemacht wurde, worauf sogleich ein Kommando Kavallerie den Flüchtigen nachsetzen mußte. Diese waren beinahe schon bis Preußisch-Minden gekommen und saßen sorglos und ruhig in einer Schenke, als die Kavallerie sie überraschte und, weil sie ihre Gewehre abgelegt hatten, gefangennahm.

Während dies geschah, empörte sich die sämtliche Mannschaft aller Schiffe und widersetzte sich dem Weitersegeln, wodurch der Kommandant von Wangenheim, so glaub ich, hieß er, sich genötigt sah, nach Stade zurückschiffen zu lassen.[94]

Wegen der überstandenen Gefahren in kleinem Wasser war ich wasserscheu wie ein Jude geworden, in der Überzeugung, daß es keine Balken habe, um so mehr graute mir vor großem Wasser; deshalb freute ich mich herzlich, als mein Herr erklärte, daß ihm die Lust zur See vergangen und er gesonnen wär, ungesäumt nach Stade zurückzukehren.

Unsre Zurückkunft wurde so fröhlich gefeiert, als ob wir schon zehn Jahre lang abwesend gewesen wären und alle amerikanischen Staaten hätten unterjochen helfen.

Einige Tage nach unsrer Rückkehr kam die Nachricht, ein Kommando von Hammersteinscher Reuter bringe die Deserteurs. Alles, was Odem hatte, zog ihnen entgegen, selbst die Soldaten hatten die Erlaubnis erhalten, sich den Neugierigen anzuschließen, unter denen, natürlich, auch ich mich befand.

Endlich erschienen die Unglücklichen. Voran kamen einige Reuter mit aufgezognen Pistolen in den Händen; hinter ihnen folgten die sechs Urheber der Desertion in Fesseln; ihnen zur Seite und hinter ihnen gingen Gerichtsdiener; hinter diesen kamen paarweise die übrigen vierundzwanzig Flüchtlinge, zur Seite und im Rücken von Reutern eskortiert. Dieser Aufzug machte einen ganz eignen Eindruck auf mich und verleidete mir ganz die Lust zum Soldatenstande, besonders, als ich sie in das nicht weit vom Tore gelegene Stockhaus einführen sah.

Während die Unglücklichen in diesem Kerker ihrem Schicksal traurig entgegensahen und die Untersuchung gegen sie im Gange war, hatte ein mitleidiger Soldat die Wache vor dem Stockhause und ließ sich von seinem Gefühle verleiten, vier in einer Koje sitzende Kameraden herauszulassen und ihnen zu sagen, daß neben dem Tore der mit einem eisernen Gitter versehene und unter der Stadtmauer weggehende Kanal unverschlossen wäre. Zwei derselben entkamen auf diesem Wege glücklich durch den Wall, die andern beiden aber wurden von dem[95] außen stehenden Posten entdeckt und nach dem Stockhause zurückgebracht und hatten die Niederträchtigkeit, ihren Befreier anzugeben. Dieser wurde darauf verurteilt, drei Tage lang durch sechshundert Mann Gassen zu laufen, und bald darauf ging die fürchterliche, unmenschliche Exekution wirklich vor sich.

Zwei Tage lang hielt dieser junge, schöne Mensch, welcher sehr viele Sprachkenntnisse besaß, die Strafe mit unbegreiflicher Standhaftigkeit aus, am dritten Tage konnt er jedoch weder mehr laufen noch gehen und bat um Gnade. Die militärische Barbarei jener Zeit blieb aber gegen seine Bitten taub und ließ ihn an einen Pfahl schließen, wo jeder einzelne des sechshundert Mann starken Exekutionskommandos ihm noch seine Hiebe geben mußte. Die Kreuzigung unsers Heilandes kann schrecklicher nicht anzusehen gewesen sein! – Die außerordentlich starke Natur dieses Unglücklichen überstand indes auch diese Grausamkeit, und als ihm darauf die Rabatten von der Montierung gerissen waren, ward er aus der Stadt verwiesen. Jetzt beeiferte sich ein jedes mitleidig, ihm ein Geldstück zu reichen, und ich selbst wurde von meinem Herrn an ihn geschickt, um ihm einen Gulden Schmerzegeld zu überbringen.

Von den dreißig Arrestanten kamen sechs auf den Bau, zwölf mußten zwei, sechs einen Tag Gassen laufen, die sechs jüngsten aber kamen mit dem bisherigen Arreste davon.

Während dieses Prozesses bis zur Exekution war ein Paar Monate verstrichen, und nun beschloß mein junger Herr, unter das Regiment Prinz Wallis zu gehen, dessen Stab in Großen-Munzel, unweit Hannover, stand. Als er aber erfahren hatte, daß sein Eintritt nicht sogleich stattfinden könnte, so wurde beliebt, daß er einstweilen eine Reise ins Mecklenburgische machen solle.

Quelle:
Sachse, Johann Christoph: Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers. Von ihm selbst verfasst, Berlin 1977, S. 93-96.
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Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers
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