Im Lokal.

[41] Wenn auch der HJ.-Mann sowie das Hitlermädel ihre Freizeit nicht in Tanzlokalen und Bierstuben verbringen, so wird es doch vorkommen, daß sie dann und wann genötigt sind, eine Gaststätte aufzusuchen. Dagegen ist durchaus nichts einzuwenden.

Auch Gunther und Helga trafen sich hin und wieder zu einem fröhlichen Abend in emem Restaurant. Gunthers Freund Herbert wollte bei einer solchen Gelegenheit ganz besonders höflich sein. Er riß die Tür zum Gastzimmer auf und versuchte, die jungen Mädels zuerst hineinspazieren zu lassen. Die aber weigerten sich zu seinem größten Erstaunen. »Aber bitte, bitte!« stand er da mit abgenommener »Melone« (steifem Hut), »die Damen haben den Vortritt.« – Da sprang Gunther dazwischen: »Mann, Herbert, aber doch nicht beim Betreteneines Lokals, da geht der Herr voran, um Umschau nach einem Tisch zu halten.«

»Ach, entschuldige«, sagte Herbert, »das habe ich wirklich noch nicht gewußt.«

Die Gäste schauten plötzlich alle nach der Tür, die Unterhaltung war wohl etwas lauter gewesen, als es sonst üblich war. Man betritt ein Gastzimmer auch nicht mit lautem Ge lächter oder weithin hörbarer Unterhaltung.

Bei Gunther genügte ein Blick, und er wußte: »An dem Tisch nehmen wir Platz.« Leider war kein ganz leerer Tisch vorhanden.[41]

»Darf man hier Platz nehmen?« fragte Gunther einen alleinsitzenden älteren Herrn.

»Bitte sehr«, war die verbindliche Antwort.

Die jungen Herren waren ihren Damen beim Ablegen der Garderobe behilflich. Das gehört sich so. Besonders gilt das für den Fall, daß ältere Damen und Herren in der Gesellschaft sind.

Am, lkebentisch saß eine kleinere Gesellschaft. Mit einem Male blickte Gunther entsetzt zur Seite. Eine Dame hatte einen Spiegel vor sich aufgebaut und fing ganz ungeniert an, sich ihren Pudelkopf zu kämmen, sich zu schminken und zu pudern.

»Herbert«, sagte Gunther vernehmlich, »das nächste Mal bringe ich mir mein Rasierzeug mit.« Am Nebentisch verschwand auffallend schnell der Frisierkasten.

Der alte Herr lächelte verständnisvoll. »Ach«, sagte er leise zu Gunther, »das geht noch an. Es gibt aber welche, die bringen es fertig, sich im Lokal die Fingernägel zu säubern und zu polieren. Habe ich schon erlebt.«

»Unmöglich!« sagte Gunther.

»Ebensolche Unsitte ist es, wenn junge Mädchen in öffentlichen Lokalen oder gar auf der Straße, in der Bahn Zigaretten rauchen. Diese vom Auslande eingeschleppte Mode ist Gott sei Dank im Dritten Reiche fast verschwunden.«

»Leider noch nicht ganz!« stimmte Helga dem Tischgast zu.

Es war sonst ganz gemütlich in dem Raum, bis später noch eine Schar junger Leute hereinkam, die sich durch lautes Unterhalten und Singen hervortat. Das wurde allgemein als unschicklich empfunden.

Gunther mußte wohl einige von der Runde kennen, vielleicht waren ein paar HJ.-Leute in Zivil dabei; er trat wie von ungefähr an ihren Tisch und sprach ein paar Worte mit ihnen. Das half sichtlich.

In seiner Unbesonnenheit, auch in Unkenntnis der Wirkung trinkt ein junger Mensch manchmal etwas mehr, als ihm[42] bekömmlich ist. Gar zu leicht kann er sich dadurch Ungelegenheiten machen, die ihm am andern Tage peinlich sind.

»Warum sollten Sie Ihr Brot nicht hier verzehren können?« sagte der alte Herr zu Herbert, als er sah, daß dieser seine Stulle unter dem Tisch verbarg. – »Aber selbstverständlich«, meinte der Wirt, »hier sind Teller und Messer. Wir sind nicht alle gleichmäßig mit irdischen Gütern gesegnet, deshalb braucht sich keiner vor dem andern zu schämen.« – Das war eine sehr vernünftige Ansicht von dem Wirt. Und der Abend verlief weiterhin noch sehr gemütlich.

Quelle:
Schütte, Carl: Willst du erfahren was sich ziemt? Caputh-Potsdam [o. J.], S. 41-43.
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